die wahrheit: Erwins Leser zu Besuch

Auf die Wirkung kommt es an: die verheerenden Folgen eines kritischen Kulturberichts.

Erwin K., freiberuflicher Lokalreporter, war behaglich in den Schlaf gefallen. Seinen letzten Artikel hatte er triumphal fertiggestellt. Ein Meisterwerk, wie er fand. Endlich hatte er mal richtig auf den Putz gehauen; hatte die dringend notwendigen, kritischen Worte gefunden über jenen Saustall, der sich Kulturangebot nannte. Nun hörte er bereits den Applaus vor seinem inneren Ohr: "Bravo, Erwin, bravo! Saubere Arbeit! Glorios, wie die ganze Grütze hier präzise auf den Punkt gebracht wird!"

Am Ende hatte Erwin die Symphonie seiner Worte tüchtig mit Ausrufezeichen gewürzt und gut gelaunt an die Redaktion geschickt. Alle Einwände, man laufe Gefahr, die Abonnenten mit dieser provokanten Polemik zu verprellen, wurden von ihm souverän beiseite geschoben. Da lache er ja wohl drüber! Lesen würde das vermutlich eh keiner von diesen Analphabeten. Mitnichten beabsichtige er, sich auf das Niveau seiner Leserschaft herabzulassen. Er sei ja wohl kein Tiefseetaucher. Und überhaupt: Blubbeldiwubbel! Grunzend, aber glücklich schlief er ein.

Angekommen auf dem Meeresgrund, erblickte er eine bezaubernde Seejungfrau. Schlank, schnittig und zudem an anspruchsvollen Gesprächen interessiert. Erwin hob seine Kapitänsmütze zum Gruße und parkte sein U-Boot auf einer Korallensiedlung. Schwärme von abgelehnten Manuskripten schaukelten in der Strömung und umhüllten ihre bloßen Stellen. Erwin fand das sehr schick. Sie sagte zu ihm: "Aufmachen, Schweinebacke, aber hopp!"

Nanu?, dachte Erwin, hier stimmt aber etwas nicht. Unverzüglich gab er das Kommando an den Maschinenraum: Auftauchen an die Oberfläche der Realität!

"Mach die Tür auf, du Penner, wir sind es!", riefen die Stimmen draußen im Treppenhaus, die Erwin endgültig aus den Tiefen der Träume rissen. Da war wohl jemand ziemlich wütend. Was sind das für oberflächliche Typen da draußen, dachte er, als bereits die Tür eingetreten wurde.

"Da ist der Schmierfink ja!", brüllte der aufgebrachte Mob. Dutzende rotglänzender Menschen drangen in seine Wohnung ein, wie die Wassermassen bei einem Staudammbruch. Manche traten gegen seine leeren Bierflaschen, andere waren agil wie ein Fuchs im Hühnerstall. Erwin verstand gleich: Dies waren seine Leser.

"Kommt doch rein, Freunde", wollte er sagen, da schlug ihm eine zum Schlagstock gezwirbelte Zeitungsrolle mitten ins Gesicht. Seine jovial zum Gruße ausgestreckte Hand wurde gleich gefesselt. "Hurra, jetzt machen wir es fertig, das dicke Schwein!", jubelte ein Herr, der sich als Staatsanwalt vorstellte. In der Menge lieferten sich die gut gelaunten Sadisten mit den schlichten Hassern einen Wettkampf um die Deutungshoheit. Alle hatten seinen Artikel ganz genau gelesen.

Selbstverständlich ließ Erwin sich von solchen anfänglichen Missverständnissen nicht aus der Fassung bringen. Er hatte ja ein dickes Fell. Während er mit der gefesselten Hand die Schläge der Tobenden abwehrte, nutzte er die andere, seiner Ansprache rhetorisches Gewicht zu verleihen. "Gewiss, ich polarisiere …", keuchte er und zog bedeutungsvoll eine seiner verbeulten Augenbrauen empor. Gern hätte er eine abwiegelnde Geste dargeboten. "… und mein Artikel mag sich dem einen oder anderen Leser in seiner gedanklichen Komplexität nicht hinlänglich erschlossen haben …" Weiter kam er nicht. Das Blut hinderte ihn daran, zu sprechen. Dass er Kafka auch sehr gut fände, hatte er noch sagen wollen. Wäre dies eine seiner Geschichten, hätte es wenigstens noch Hoffnung gegeben. Man brachte ihn jetzt aber zum Schweigen. Bald trug er ein Papierschiffchen als Hut, selbstverständlich aus seinem Artikel gefaltet.

Erwin wurde gegen das Fenster gestoßen. Er glubschte wie durch ein Bullauge. Keine Meerjungfrauen weit und breit. Stattdessen trafen ihn die Stiche von mehreren Kuchengabeln an seinen zahlreichen fetthaltigen Körperregionen. Warum schreiben die nicht einfach einen Leserbrief, dachte er, während er platt an die Scheibe gequetscht wurde. Dass der persönliche Kontakt zum Autor von seinen Lesern völlig überschätzt würde, wollte er noch denken, doch man schlug ihm bereits mit seiner Tastatur derart auf den Hinterkopf, dass ihm die Gedanken mächtig ins Wackeln gerieten. Er hörte Applaus.

Auf argumentativer Ebene gelang es Erwin nicht, in die Debatte einzusteigen. Also blickte er, soweit es die Schläge zuließen, stumm durch die Scheibe. Unten auf der Straße, bis weit zum Hähnchengrill, standen die Menschen. Dort gab es einen Autostau, von den Zugereisten aus dem Umland. Man hupte, schließlich hatten es alle eilig, zu ihm zu kommen. Mistgabeln wurden geschwenkt. Tausende Schilder forderten Erwins sofortigen, möglichst qualvollen Tod. "Qualitätsjournalismus stellen wir uns anders vor!", las er und: "Erwin stinkt!". Nun, dachte Erwin, das sind Einzelmeinungen. Im Großen und Ganzen war sein Artikel doch ganz passabel angekommen.

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kari

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