Laubenpieper gegen Bezirkspolitiker: Flurbereinigung im Rütli-Revier

Bildung geht vor: Weil die Rütli-Schule zum Campus umgebaut wird, müssen Neuköllner Kleingärtner ihre Parzellen räumen. Die Laubenpieper sind empört - und wollen gegen den Bezirk klagen.

Damit die Jugendlichen an der Rütli-Schule eine Perspektive bekommen, soll das Gebiet zum Bilduns-Campus ausgebaut werden. Den Kleingärtnern wurde gekündigt. Bild: AP

Die Rütli-Hauptschule ist durch einen Hilferuf der Lehrer 2006 bundesweit bekannt geworden. Seither steht der Name für Jugendgewalt und das Versagen des Bildungssystems. Der „Campus Rütli“ ist nun ein neues Bildungskonzept, initiiert von der Stiftung „Zukunft Berlin“ und dem Neuköllner Bezirksamt, umgesetzt vom Quartiersmanagement Reuterplatz. Die Vision ist kühn: Ein gemeinsamer Sozialraum soll geschaffen werden, der die Kinder und Jugendlichen von der Kita bis zur Jobsuche begleitet. Kern des Campus Rütli ist ein Zusammenschluss der Rütli-Hauptschule, der Heinrich-Heine-Realschule und der Franz-Schubert-Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule. Das Albert-Schweitzer-Gymnasium, mehrere Kitas und Freizeiteinrichtungen, die Volkshochschule Neukölln, die Musikschule und der Sozialpädagogische Dienst komplettieren das Bündnis. Der vorrangig aus Landesmitteln und Förderprogrammen finanzierte Campus soll rund 25 Millionen Euro kosten. ddp/taz

Endlich Frühling: Die Osterglocken blühen, die Knospen der Apfelbäume wachsen stetig. Spatzen und Blaumeisen zwitschern sich die Kehle aus dem Leib und plantschen in den von den Gärtnern bereitgestellten Vogeltränken. Die Kleingartenkolonie "Hand in Hand", eine Ansammlung von 33 Parzellen entlang der Neuköllner Rütlistraße, wirkt an diesem Samstagnachmittag zwischen Wohnblöcken, Straßen und Dönerläden wie eine grüne Oase.

Doch mit dem Gärtnern dürfte bald Schluss sein: Bis Ende November, so steht es in der Kündigung des Bezirksamts Neukölln, müssen die Laubenpieper Platz machen für den "Campus Rütli" - ein Riesen-Bildungsprojekt, für das auch schon umliegende Kleingewerbe das Feld räumen mussten.

Das Projekt sieht vor, die Rütli-Hauptschule mit der Heinrich-Heine-Realschule und der Franz-Schubert-Grundschule als Gemeinschaftsschule zusammenzulegen. Für den 41.000 Quadratmeter großen Campus sind laut Projektleiter Klaus Lehnert außerdem der Bau einer Sporthalle sowie mehrerer Gebäude für berufsorientierte Angebote und Schulsozialarbeit geplant. Eine Mensa mit 114 Sitzplätzen wurde bereits Ende Februar eröffnet.

Was auf dem Gelände der Kolonie genau entstehen soll, ist Lehnert zufolge noch unklar. Darüber werde in einem vom Senat ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerb entschieden, der in den nächsten Wochen starte, sagt der Projektleiter. Kein Platz also für die Gartenfreunde in der Rütlistraße? "Das Kleingarten-Gebiet gehört dem Land Berlin und ist schon seit den 70er-Jahren Schulerweiterungsgelände", erklärt Lehnert. Der Erhalt der Kolonie sei im Campus-Konzept nicht vorgesehen.

Die Neuköllner Rütli-Schule ist bundesweit bekannt: Mit einem Brandbrief hatten die Lehrer 2006 die Missstände an der Schule angeprangert. Über Nacht wurde sie zum Inbegriff eines gescheiterten Schulsystems. Das Campus-Konzept soll nun die Bildungschancen der Jugendlichen in Neukölln verbessern (siehe Kasten).

Ob die Politik dabei auf Blumenbeete und Apfelbäume Rücksicht nehmen wird? Darauf wollen sich die Kleingärtnerinnen und Kleingärtner nicht verlassen. Sie wehren sich mit juristischen Mitteln. Ihr Vorwurf: Sie seien, so "Hand in Hand"-Vorsitzende Sabine Sommer-Musli, nur "schleichend" über die Planung des Rütli-Projektes informiert worden. Gegen "Verfahrensfehler" bei der Kündigung will die Kolonie klagen. Die Gärtner verweisen auch auf den sogenannten Kleingartenentwicklungsplan des Landes: Laut Sommer-Musli garantiert er den Kolonien eine Schutzfrist bis 2014.

Thomas Blesing (SPD), Baustadtrat im Bezirk Neukölln, kennt den Entwicklungsplan. Allerdings sei er bloß eine "Absichtserklärung". "Der Plan hat keinen Gesetzescharakter. Deshalb können die dort aufgezählten Punkte auch nicht eingeklagt werden." Die Kündigung sei vollkommen rechtmäßig.

Ganz anders sieht das Peter Ehrenberg. Der Präsident des Landesverbands der Gartenfreunde kritisiert, dass der Bezirk die Interessen der Kolonie nicht berücksichtige. "Die Kolonien haben auch einen ökologischen Wert und leisten ihren Beitrag gegen die Klimaerwärmung." Dass allein Argumente die Gärten retten, das wagt aber selbst Ehrenberg nicht zu hoffen.

Auch Sabine Sommer-Musli blickt wenig optimistisch in die Zukunft. "Das Schlimme ist ja, dass der Bezirk nicht kompromissbereit ist", sagt sie wütend. Die Kolonie habe sich schon bereit erklärt, in das Campus-Projekt eingegliedert zu werden. "Wie wäre es zum Beispiel, die Anlage in einen Schulgarten umzuwandeln?", fragt sie. Aber über solche Vorschläge würde gar nicht gesprochen.

Die Pächterin wirkt desillusioniert. Wie viele ihrer Mitgärtner wohnt sie in einem der Wohnblocks in der Nähe und nutzt die Parzelle als Rückzugsort. Zwar habe der Bezirk ihnen "Brachland" angeboten für den Bau einer neuen Gartenanlage. "Aber den Umzug können sich viele hier nicht leisten", klagt Sommer-Musli.

Die Gartenfreunde und die Bildungspolitiker kommen in der Rütlistraße nicht zusammen: Für viele der Laubenpieper ist der Campus Rütli ein "Prestigeobjekt", das über den Bedarf der im Kiez benötigten Bildungsinvestitionen hinausgeht. Die Campus-Unterstützer berufen sich indes in einem Schreiben an die Kleingärtner auf "steigende Schülerzahlen" und die Notwendigkeit, einen sozialen Raum zu schaffen, der die Gemeinschaftsschule und Kitas in ein Angebot an Sportflächen, Freizeitaktivitäten und berufsfördernde Einrichtungen integriert. Die Gemeinschaftsschule ist bereits im vergangenen Sommer gestartet. Bis voraussichtlich 2012 soll der Campus "CR2" mit Platz für bis zu 1.400 Schülern fertig sein, so Projektleiter Lehnert.

Nicht nur bei den Gärtnern, auch bei den Anwohnern sorgt die Nachricht, dass die Kolonie verschwinden soll, für Empörung. "Ich bin vor acht Jahren in die Nähe gezogen, weil es hier so schön grün ist", sagt Matthias Gust aus der benachbarten Ossastraße. "Wenn der Kleingarten platt gemacht wird, ziehe ich vielleicht sogar um."

Besonders traurig ist die älteste Pächterin in der Kolonie, Helga Isert. Die Rentnerin verbringt seit 1950 jede freie Minute in ihrem Garten. Sie blickt von ihrem Kreuzworträtsel auf und zeigt stolz auf einen großen Apfelbaum, der sich vor ihrer Laube in die Höhe streckt. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dieser Baum abgeholzt werden könnte", sagt die 73-Jährige.

Schräg gegenüber haben es sich zwei Familien mit Kindern im Garten gemütlich gemacht. Pächter Holger Röntgen schätzt das gemischte Publikum in der Kolonie: "Es ist gar nicht so spießig. Hier gibt es sowohl ältere Leute als auch junge Familien. Wer weiß, wie es anderswo ist?"

Kampflos aufgeben wollen die Laubenpieper nicht. Eine Unterschriftenaktion haben sie gestartet, demnächst hängen sie Plakate auf. Im Herbst soll die Entscheidung fallen, ob das Landgericht die Klage überhaupt annimmt. "Wir glauben nicht daran", sagen viele Pächter. Behalten sie Recht, ist das ihr letzter Frühling an der Rütlistraße.

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