Debatte Gewerkschaften in der Krise: Ruhe ohne Sturm

Keynes ist auferstanden, Guido als Staatsmann rehabilitiert, die Armut wächst, und die Gewerkschaften setzen verdrossen auf die Regierenden. Szenen aus einem Trauerspiel

Der Abgesang auf den Neoliberalismus wird angestimmt. Fast alle kennen schon den neuen Refrain. Für Maynard Keynes, eben von den Toten auferstanden, ist der rote Teppich ausgerollt. Leicht irritiert ob des unvermittelt einsetzenden Beifalls humpelt der alte Herr durch das Spalier.

Auf der einen Seite stehen die Gewerkschaften. Mitten unter ihnen eine Dame mit Seidenschal, die einer gewissen Frau Schaeffler täuschend ähnlich sieht. Ihnen gegenüber haben sich die Parteienvertreter versammelt, darunter auch Leute von CSU und Linkspartei. Auf beiden Seiten werden bedruckte Winkelemente gezeigt, darauf prägnante Slogans, die das olympische Motto des "höher, schneller, weiter" mit drögen Begriffen wie Rettungsschirm, Konjunkturpaket, Abwrackprämie und Gebäudesanierung verbinden. Hinter dem dichten Polizeikordon hält ein halb Vermummter ein Pappschild hoch: "Capitalism is over!"

Sehen wir uns den Gewerkschaftsblock näher an. Eigentlich gäbe es dort allen Grund zur Freude. Sollte man nicht Herrn Keynes jubelnd auf den Schultern tragen und "Platz da!" rufen? Sollte man nicht, nach dreißig qualvollen Jahren der Defensive, wieder vorwärtsstürmen und dem schmerzgekrümmten Neoliberalismus einen kräftigen Tritt verpassen? Doch die meisten unter den Gewerkschaftern wirken müde und lustlos. Weder das Mitbestimmungsfähnlein der Dame mit dem Seidenschal noch das "Kurzarbeit statt Entlassung"-Fähnlein im Parteienblock kann ihre Mienen aufhellen. Woran es wohl liegen mag?

Zum Ersten hat die jahrelange eingenommene Sitzhaltung den gewerkschaftlichen Bewegungsapparat verkümmern lassen. Es fehlt an Gelenkigkeit, Schnellkraft und Ausdauer. Also bleibt man freundlich winkend stehen und stimmt sich innerlich bereits auf die nächste Verhandlungsrunde ein. Endlich wieder sitzen. Selbst die DGB-Jugend, ohnehin mit leichtem Bauchansatz, kommt bei ihren kurzen Sprints ins Keuchen. Von Aufbruch keine Spur.

Zum Zweiten scheinen die wenigen Bewegungswilligen unter den älteren Gewerkschaftern ihre innere Bremse nicht ganz lösen zu können. Wie ein unsichtbares Gummiband zieht sie ihre SPD-Mitgliedschaft immer wieder zurück, sobald sie sich allzu weit von der Linie entfernen, die anno 1959 in Godesberg gezogen wurde. Man kann doch nicht den eigenen Leuten, die in der Regierungsverantwortung stehen, in den Rücken fallen. Und wohin sollte ein Sturmlauf überhaupt gehen? Vom Sammelplatz aus bleibt das Ziel jedenfalls unsichtbar. Immerhin: Die Managergehälter der am Staatstropf hängenden Banken sind begrenzt worden. Und an den Küsten der Steueroasen (angeblich sind es nur noch vier) sollen sogar Sandwälle aufgeschüttet werden, um den Zugang zu erschweren. Zu dumm nur, dass alle Fracht zu den Cayman-Inseln per Flugzeug gelangt. Inzwischen soll es sogar einen Direktflug ab Frankfurt geben. Im Übrigen kann man vieles per Internet erledigen.

Zum Dritten fehlt es den Gewerkschaftern an Ortskundigen, die beim Orientierungslauf durch den Sumpf von Derivaten und Zertifikaten, Leergeschäften und Cross Border Leasing den Weg weisen könnten. Also vertraut man sich den Regierenden an, die ja wissen müssen, wo es langgehen soll. Dass diese erneut jene alten Kundschafter bestellen, welche sie eben in die Irre geführt haben, fällt nicht weiter auf. Immerhin stimmt die Rhetorik. Die Sümpfe, so wird verkündet, sollen nun trockengelegt werden. Dazu berufen wurden die Routiniers unter den Fröschen. Im Falle der High Level Group, die vor Kurzem von der EU zur Krisenregulierung eingerichtet wurde, sind dies ein ehemaliger Managing Director von Lehman Brothers Europe, ein Berater von Goldman Sachs, ein Berater der Citigroup. Dick im Geschäft bleiben auch die Wirtschaftsprüfer von KPMG, die noch im August 2008 der Hypo Real Estate bescheinigt hatten, dass selbst bei einen Worst-Case-Szenario die uneingeschränkte Zahlungsfähigkeit der Bank sichergestellt sei.

Schon bald nachdem der gute Keynes in die Limousine des Finanzministers bugsiert und der Teppich wieder eingerollt worden ist, macht sich die Abendkühle bemerkbar. Ein Teil der Spaliersteher vom Nachmittag sammelt sich um eine Tonne, in der ein Feuer angezündet wird. Man unterhält sich über Arbeitskämpfe der Vergangenheit, um dann zu den Themen der Gegenwart zu kommen: Lohnverzicht, Kurzarbeit, Senkung der Mehrwertsteuer, Sorgen der Exportindustrie, Hartz IV erhöhen. Oder besser senken? Trotz des Einspruchs von Horst, einem IG-Metaller von der "Kontaktstelle für soziale Bewegungen", werden die jungen Leute von Attac auf Abstand gehalten. Sollen sie doch ihr eigenes Feuerchen machen und sich mit den Linksradikalen herumärgern.

Von seinem Balkon blickt ein gewisser Guido gelassen auf das Geschehen. Ab und zu hebt er seinen Schuh; die Zahl 18 wird auf der Sohle sichtbar. Dabei wiederholt er die Wörter "Staatsversagen" und "Steuersenkung". So einen, abgesehen von den guten alten Sozis, müsste man zum Koalitionspartner haben, meinen Jürgen und Renate, als sie vorbeispazieren, neuerdings in grünen Lodenmänteln. Derweil wird auf dem angrenzenden Marktplatz ein spitznasiger Mann aus dem Saarland mit Eiern beworfen. Ein Herr im Nadelstreifenanzug tritt neben Guido auf den Balkon. "Wir alle haben Fehler gemacht", sagt er mit Schweizer Akzent.

Ich mache mich fröstelnd auf den Heimweg. Erst bei der "Tagesschau" wird mit klar, dass der Herr aus der Schweiz Unrecht hatte. Porsche, so wird vermeldet, hat im März 2009 trotz der allgemeinen Krise seinen Absatz steigern können: 14,5 Prozent mehr als im Vergleichsmonat des Vorjahrs, 57 Prozent mehr als im Februar dieses Jahres. Wenigstens die haben keinen Fehler gemacht. Bravo, Herr Wiedeking, Sie sind der King. Dass der Mann allemal seine 60 Millionen pro Jahr wert sei, soll selbst im Zuffenhausener Betriebsrat zu hören sein. Ganz andere Töne dagegen aus Grenoble, wo die aufgebrachte Belegschaft von Caterpillar vier ihrer Manager für 24 Stunden festgehalten hat. Dann die Live-Schaltung zu Opel Rüsselsheim. Dort scheint die Kraft in der Ruhe zu liegen. Management und Betriebsrat sind sich einig: Das Hauptproblem sei der Mutterkonzern GM, das Nebenproblem das zu hohe Lohnniveau. Doch dank der Abwrackprämie gehen nun zumindest die kleinen Opel-Modelle weg wie warme Semmeln. Flugs legt die Politik einige Milliarden Prämie nach. "Abwracken boomt - und alle profitieren", schreibt die ADACmotorwelt der April-Ausgabe. Die Regierenden sind mit sich zufrieden. Herr Sommer vom DGB bestätigt, dass die Bundesregierung "beim Krisenmanagement einen guten Job" mache. Ohnehin, so der Finanzminister, gehe die Krise allein auf ein Marktversagen zurück. Über kurz oder lang komme aber der Aufschwung zurück. Dann können auch die Schulden getilgt werden.

Ich schließe die Augen. Mir schießen die Bilder vom heutigen Tag durch den Kopf. Es folgen Bilder aus der Vergangenheit: Pariser Commune, Weberaufstand in Schlesien, Sturm auf die Bastille. Als ich im Jahr 1780 angelangt bin, fallen mir Goethes Zeilen ein: "Über allen Wipfeln ist Ruh? Warte nur, balde ruhest auch Du." Ich entspanne mich und schlafe durch bis zum 1. Mai.

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