Neues Nahrungsmittelprogramm in Nicaragua: Eine Kuh namens Versöhnung

In Nicaragua verteilt die Regierung Tiere und Baumaterialien gegen den Hunger. Kritiker bezweifeln, dass so die Armut nachhaltig sinkt. Denn: Das Ganze ist anfällig für Klientelismus.

"Null Hunger" – so heißt das neue Sozialprogramm. Bild: ap

MUY MUY/MANAGUA taz Doña Mercedes ist glücklich, denn Comandante Daniel hat ihr eine trächtige Kuh geschenkt. Dazu eine Sau, zehn Hennen, einen Hahn, zwei Rollen Stacheldraht, Metallkrampen, Zinkblech, einen Sack Zement, ein Stück Drahtzaun und verschiedene Pflanzensamen. Gesamtwert: 1.500 US-Dollar. "Daniel ist der Einzige, der uns Armen hilft", sagt sie und lächelt zufrieden. Mercedes Alanis Polanco ist 60 Jahre alt, glattes Gesicht, graue Haare. Zehn Kinder hat sie großgezogen, zwei der Töchter wohnen noch mit ihr und ihrem Mann in dem kleinen Haus. Man sollte wohl eher Hütte sagen, eine dunkle Hütte, aus Brettern zusammengezimmert, in der halboffenen Küche dampft ein Topf auf dem Holzfeuer. Drinnen schmücken Bilder von Jesus und Maria die Wand, außen hängen angegilbte Plakate von der Kommunalwahl im vergangenen November.

Das Land: Nicaragua ist eines der ärmsten Länder in Lateinamerika. Knapp die Hälfte der rund 5,7 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag. Auf dem Land sind es zwei Drittel.

Der Präsident: Seit Anfang 2007 ist der ehemalige Revolutionsführer Daniel Ortega wieder Präsident von Nicaragua. Vor 30 Jahren siegte er mit der Sandinistischen Befreiungsbewegung, der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), gegen die Somoza-Diktatur.

Das Programm: Das sogenannte Nahrungsmittel-Produktionsprogramm, besser bekannt unter dem Namen „Hambre Cero“, steht im Zentrum von Ortegas Sozialpolitik. Finanziert wird es unter anderem mit Haushaltsmitteln und einem Kredit der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Das Welternährungsprogramm und die Europäische Union haben ihre Zuschüsse für das Jahr 2009 gestrichen.

Im Garten hinter dem Haus wachsen Tomatenstauden und kleine Orangenbäume; die Hühner laufen frei herum, in einem Gehege lebt jetzt die Sau. Sie grunzt. Vielleicht aus Freude, vielleicht, weil sie bedrängt wird; jedenfalls hat sie gerade Besuch von einem Eber, der sie decken soll. Sechs Ferkel sollten es schon werden, hat sich Doña Mercedes gedacht, dann könnte sie ein paar verkaufen. "Man kann ja nicht alle sechs essen."

Chompipe ist ein kleines Dorf in der Gemeinde Muy Muy, mitten in Nicaragua: die Durchgangsstraße aus Schotter, eine überdachte Bushaltestelle, ein Gemischtwarenladen, eine Grundschule. Die 250 Einwohner leben von der Landwirtschaft, das ist nicht leicht. Aber jetzt gibt es "Hambre Cero", das Sozialprogramm der Regierung, und das kann Mercedes' Familie dringend gebrauchen. Insgesamt 75.000 Familien sollen in den nächsten fünf Jahren von "Hambre Cero" (wörtlich: null Hunger) profitieren, so versprach es Präsident Daniel Ortega im Wahlkampf. Mehr Essen für die Familien und zusätzliche Einkommensquellen, das ist die Idee. Kritiker meinen, das sei bloß ein Geschenk für Parteianhänger.

Dass sich das Programm ausdrücklich an Frauen richtet, findet Doña Mercedes gut. "Endlich kümmert sich jemand um uns." Was glaubt sie, warum sie ausgesucht wurde? Weil sie arm sei und verantwortungsvoll genug, Tiere zu halten. Warum auch sonst? Sie will dem Besucher ihre Kuh zeigen. Es geht an einem Zuckerrohrfeld vorbei, dann durch kniehohes Gestrüpp. An den Füßen trägt sie Plastikschlappen, in der Hand hält sie eine Machete. "Ich bin eine fleißige Frau", sagt sie und schnauft ein bisschen dabei. Ein Stück noch über die hügelige Wiese, Doña Mercedes streckt ihren Arm aus. "Da ist sie! Das ist meine Hambre-Cero-Kuh." Sie hat Glück gehabt, ihre Kuh ist gesund, gibt Milch; andere hatten Pech und bekamen Tiere, die wenig Nutzen bringen. Das also ist ihre Kuh - und wem gehören die anderen auf der Weide?

"Das sind die von meinem Mann", sagt Doña Mercedes. Denn ihr Mann hat schon drei Kühe, zudem besitzt das Ehepaar 60 Manzana Land, das sind gut 40 Hektar. Familien, die 60 Manzana Land besitzen und drei Kühe, für die ist "Hambre Cero" eigentlich nicht gedacht. Darüber macht sich Doña Mercedes keine Gedanken. Sie habe das Tier Reconciliación genannt, sagt sie nur. Und verhaspelt sich etwas bei dem schwierigen Namen.

Reconciliación heißt Versöhnung und ist eines der Schlagworte, mit denen Ortega seine erneute Regierungszeit eingeleitet hat.

Der Mann, der indirekt dafür gesorgt hat, dass eine Kuh zum Namen Versöhnung kommt, heißt Orlando Núñez Soto. Der promovierte Ökonom und Soziologe - er hat in Spanien und Frankreich studiert - ist Direktor der Nichtregierungsorganisation Cipres, einer Art Ideenfabrik für die Landwirtschaft. Das "Hambre Cero"-Programm hat er schon vor zehn Jahren entwickelt, und in kleinem Rahmen lief es schon, als er es Ortega für dessen Wahlkampf anbot.

Núñez arbeitet mitten in der Hauptstadt Managua und doch im Grünen, auf einer der vielen Brachflächen, die vom Erdbeben 1972 übrig geblieben sind. Er ist überzeugter Sandinist, nach der Revolution war er Direktor des Agrarreforminstituts. Jetzt darf er sich ehrenamtlicher Präsidentenberater nennen. Núñez trägt Jeans, ein kariertes, kurzärmliges Hemd; er ist ein Mann, der nicht nur nachdenkt, sondern auch gerne anpackt. Er hat sich das wohl größte Problem in seinem Land vorgeknöpft: die Armut. "Es ist doch ganz einfach", sagt Núñez, "wer sich entwickeln will, braucht Kapital." Und für die Bauern in Nicaragua sei das beste Kapital eben eine Kuh. Dass die Begünstigten die Tiere verkaufen oder einfach sofort aufessen? Das sei in all den Jahren kein einziges Mal vorgekommen. Man müsse Vertrauen in die Frauen haben. "Frauen verkaufen nicht die Milch, die für ihre Kinder bestimmt ist."

Dass die Regierungspartei FSLN nun Stimmen dazugewinne, zeige doch nur, dass die Leute nicht dumm sind, sagt Núñez. "Sie wählen die Partei, die ihnen hilft." Er habe das Programm schon Ortegas Vorgängern vorgeschlagen, Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños. Zum ersten Mal wird seine Stimme laut. "Und die wollten es nicht. Ihr Problem!" Die Regierung hat nun überall in der Hauptstadt große pinkfarbene Schilder aufgestellt. Auf vielen reckt Ortega die Faust in die Höhe oder winkt mit der rechten Hand. Auf einem steht: "30.709 Familien haben von Hambre Cero profitiert."

In der Praxis ist das mit dem "Nahrungsmittel-Produktionsprogramm", wie es offiziell heißt, nicht so leicht, wie es sich Núñez vielleicht gedacht hat. Es fehlt an Transparenz, und das Landwirtschaftsministerium ist mit der Durchführung augenscheinlich überfordert. Es gibt gar nicht genügend Tiere auf dem Markt und mehr Personal wäre nötig, um den Bauern zu erklären, was sie bei der Tierhaltung beachten müssen. Wie nachhaltig das Programm ist, lässt sich noch nicht sagen. Aber immer mehr Stimmen weisen darauf hin, dass "Hambre Cero" eine politische Dimension hat, für die es ein plakatives Wort gibt: Klientelismus.

Wer entscheidet eigentlich, wer die Güter bekommt und wer nicht? Das herauszufinden ist nicht einfach. Die Führungspersönlichkeiten des Dorfes, sagen die Leute in Muy Muy vage. Am Ende, so stellt sich heraus, hat ein Mann die Fäden in der Hand: Julio Chow. Er ist der FSLN-Sekretär und damit der höchste Parteivertreter in der Gemeinde. Im Büro der FSLN ist er nicht anzutreffen, im Rathaus auch nicht; es heißt, er sei aufs Land gefahren.

Doch Glück gehabt: Chow sitzt noch vor seinem Haus und unterhält sich mit Parteifreunden. Erst will er sich gar nicht äußern, dann kommt eine Feststellung. Er sei gar nicht mehr der Parteisekretär, sondern der Delegierte der Bürgergewalt. Was ist der Unterschied? "Das ist das Gleiche", sagt er. Alle Parteisekretäre seien jetzt die Delegierten der Bürgergewalt. Wen er jetzt eigentlich repräsentiert, den Präsidenten, die Regierung, die Partei, das lässt sich seinen Worten nicht eindeutig entnehmen.

"Hambre Cero", das könne er feststellen, sagt Chow, sei bislang ein großer Erfolg. 250 Familien hätten in der gesamten Gemeinde davon profitiert, viele andere sollen auch noch in den Genuss kommen. "Die Ernährung der Kinder hat sich jetzt schon verbessert", meint Chow. Und wer sucht die Begünstigten aus? "Die Bürgergewalt, genauer das Kabinett der Bürgergewalt auf Gemeindeebene." Richtig, er koordiniere es. Aber parteiisch sei das Programm deshalb nicht. Man begünstige gleichermaßen Sandinisten wie Liberale. Überhaupt hätten die Bürgergewalt und "Hambre Cero" mit der Partei nichts zu tun. "So, keine Zeit mehr. Wars das?" - Eine Sache noch, wäre ein Foto von Ihnen möglich?

"Warten Sie einen Moment", sagt Chow und verschwindet im Haus. Gleich darauf ist er wieder da, in der Hand hält er die schwarz-rote Parteiflagge. Er schwenkt sie sachte und setzt eine staatstragende Miene auf. Seine Freunde machen das Victory-Zeichen. Auf dem Kopf trägt Chow eine pinkfarbene Schildkappe mit der Aufschrift: "FSLN - die Kraft der Revolution."

Doña Mercedes, die Frau, die sich so sehr freut über ihre Kuh mit dem Namen Versöhnung, hat auch eine pinkfarbene Kappe auf dem Kopf. Sie und ihr Mann sind Anhänger der FSLN, geschadet hat ihnen das mit Sicherheit nicht.

In einer Ecke der Weide steht ein dürres Kalb auf wackeligen Beinen. Das werden sie aufziehen und verkaufen, sagt sie. Mit dem Ertrag wollen sie die 20 Prozent begleichen, die sie vom Wert des Hilfspakets zurückzahlen müssen. Doña Mercedes schaut nach vorne. Vor Kurzem hat sie Lesen und Schreiben gelernt, mit dem Regierungsprogramm "Yo Sí Puedo" (ich kann es doch), bald beginnt der Fortsetzungskurs. Mit den anderen von "Hambre Cero" begünstigten Frauen soll sie eine Kooperative bilden, um ihre Produkte besser zu vermarkten. Das hält sie für eine gute Sache - und hofft, dass bald noch mehr Hilfe vom Präsidenten kommt. Eine Kuhtränke etwa könnte sie gebrauchen.

Bisher verbietet die Verfassung dem Präsidenten die Wiederwahl. Es besteht aber kaum Zweifel in Nicaragua, dass Daniel Ortega eine entsprechende Verfassungsänderung durchsetzen wird.

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