Kommentar Armut in Deutschland: Schwierige Fragen

Das Armutsrisiko ist keine regionale kulturelle Besonderheit, sondern mit der Konzentration von Wirtschaft und Politik auf die Export-Industrie gewachsen.

Wir wissen jetzt, wie sich die Armut über die Republik verteilt. Das haben wir dem "Armutsatlas" des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zu verdanken.

Der Atlas wirft erneut Fragen auf, die gerade im Wahl- und Jubeljahr zum Mauerfall nur ungern diskutiert werden. Etwa: Muss man sich vielleicht damit abfinden, dass in einem so großen Land wie Deutschland ganze Regionen abgehängt werden? Der Atlas belegt ja erneut: Das Geld sitzt im Süden. Im Osten hingegen ebenso wie in vielen Regionen Nordwestdeutschlands sieht es erbärmlich aus. War also die Sache mit den "gleichwertigen Lebensverhältnissen", die das Grundgesetz für die ganze Republik fordert, nicht schon immer ein Missverständnis? Und schließlich: Warum kommen diejenigen, die in Vorpommern herumsitzen, jammern und Nazis wählen, nicht einfach nach Baden-Württemberg?

Angesichts der Wirtschaftskrise dürfte diese in Westdeutschland bislang verbreitete und stets überhebliche Sichtweise einige Anhänger verlieren. Immerhin schlägt sich der Einbruch der Exportindustrie in den Wohlstandsfabriken des Südens eher nieder als in Sachsen-Anhalt oder im vorpommerschen Hinterland. Dass dies zu einer gewissen Annäherung der Einkommensverhältnisse führen könnte, ist jedoch wahrhaftig kein Trost. Immerhin aber wird dadurch, dass in Baden-Württemberg viele tausend Menschen nun ebenfalls von Armut bedroht sind, die Armutsdebatte wieder politisiert. Denn das Armutsrisiko ist keine regionale kulturelle Besonderheit, sondern ist mit der Konzentration von Wirtschaft und Politik auf die Export- und namentlich die Autoindustrie gewachsen.

Wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband jetzt verlangt, das Arbeitslosengeld II anzuheben, hat er damit natürlich recht. Auf jeden Fall wäre eine relevante Erhöhung des Hartz-IV-Satzes im zweiten Konjunkturprogramms unbedingt nötig gewesen. Trotzdem kann das nicht die maßgebliche Kritik an der Konjunkturpolitik der Bundesregierung sein. Konjunkturprogramme dienen nicht in erster Linie der Armutsbekämpfung. Sie sollen der heimischen Wirtschaft Aufträge verschaffen.

Das nächste Konjunkturprogramm kann daher nur eines sein, das statt Abwrackprämien Auswege aus der Autoexportfixierung bietet. Nur dann werden sich die Farben im Armutsatlas vielleicht wieder angleichen.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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