Langzeitdoku über Berlin: Vom Leben der Anderen
Am Dienstag beginnt die neue Staffel der Langzeitdoku "Berlin - Ecke Bundesplatz". Die erste Folge zeigt die triste Existenz einer alleinerziehenden Mutter (23.00 Uhr, 3sat).
Reingucken können, hinein in andere Leben. Dabei sein, wenn geboren und gestorben wird, staunen über Kinder, die groß und größer werden, eine Träne verdrücken, wenn sie heiraten. Das alles muss einem nicht einmal die eigene Biografie bieten, es reicht, den Fernseher einzuschalten und "Berlin - Ecke Bundesplatz" zu schauen. Ab Dienstag strahlt 3sat die vierte Staffel dieser grandiosen Langzeitdokumentation aus.
Seit 1986 begleiten die Berliner Filmemacher Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm die Menschen in jenem Westberliner Kiez, in dem auch ihr Produktionsbüro liegt. Hier leben Anwälte und Arbeitslose, Handwerker und Zuwanderer, bis heute. 17 Filme sind in 23 Jahren entstanden, und mit so vielen Protagonisten und über einen derart langen Zeitraum wird das eingelöst, was man sich von gutem Dokumentarfilm erwartet: Zugewandtheit, Sorgfalt und echte Überraschungen.
Der erste Film handelt vom Leben der Marina Storbeck. "Mütter und Töchter" taucht in das Leben der Krankenschwester ein. Ebenjenes Leben, man muss es so sagen, hat eher sie im Griff, als dass sie es schafft, ihrem Dasein eine Richtung zu geben. Marina bekommt drei Kinder von drei verschiedenen Männern, für sie sind Jasmin, Sabrina und Lukas "immer ein Geschenk".
Man könnte sich erfreuen an dieser Zugewandtheit, müsste man nicht dabei zuschauen, wie die Alleinerziehende im Laufe der Jahre immer mehr ins Straucheln gerät. Und mit ihr die Kinder. Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Depressionen, abwesende Väter - um diese Eckpunkte dreht sich das Leben dieser Frau. Bei jedem der über die Jahre regelmäßig stattfindenden Interviews tummeln sich mehr Tiere auf der Gesprächscouch, neben Marina sitzt immer eines ihrer Kinder, das die entschlossenen Statements der Mutter zum Thema Leben allgemein mit einem zweifelnden Lächeln begleitet.
Die Älteste, Jasmin, inzwischen Mitte zwanzig, will alles anders machen als ihre Mutter, vor allem "keine Kinder und keine Stütze kriegen". Als sie das sagt - hart und desillusioniert -, hat sie die Schule abgebrochen und träumt davon, Friseuse zu werden. Wenig später ist sie alleinerziehende Mutter und auf Hartz IV. "Warum soll ich arbeiten gehen, wenn ich vom Amt leben kann?", wendet sie an, was sie das Leben mit ihrer Mutter gelehrt hat.
Es ist die große Leistung der Bundesplatz-Filmer, dass sie über all die Jahre drangeblieben sind. An Menschen wie Reimar Lenz und seinem Mann Hans Ingebrand, die stoisch und schrullig gegen die Dummheit dieser Welt angehen. An der Hauswartsfrau Bertha Tomaschefski, die sich mit ihren über 90 Jahren um einsame Wilmersdorfer Witwen kümmert und letztlich selbst allein stirbt. An Dirk Danker, an dessen einst gutgehender Hauskrankenpflegefirma man sehr schön sehen kann, wie und warum das deutsche Gesundheitssystem den Bach runtergeht. An der Familie Köpcke, die bei aller Intellektualität nie gelernt hat, ordentlich miteinander zu reden. Und schließlich an der kurdischen Familie Yilmaz, die top integriert ist und sich in den letzten Jahren auf die Suche nach ihren Wurzeln begeben hat.
Dass diese Leute Zuschauer in ihr Leben lassen, ist großzügig. Dass Gumm und Ullrich sie stoisch begleitet haben, ein Verdienst. Dass Berlin hier noch gutes, echtes, altes Westberlin sein darf, eine Überraschung. Denn obwohl drei Jahre nach Drehbeginn die Mauer gefallen ist, spürt man kaum etwas davon, dass dieses Berlin seitdem Ausgänge hat.
Die weiteren Ausstrahlungstermine: 8. 7., 22.25 Uhr, "Der Yilmaz-Clan"; 14. 7., 22.55 Uhr "Die Köpcke-Bande"; 15. 7. , 22.25 Uhr "Die Aussteiger"; 21. 7., 23.00 Uhr "Schön ist die Jugend" (alle 3sat)
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