Streit der Woche: "Politiker müssen lügen"
Können Politiker im Wahlkampf ehrlich sein? Es geht, behaupten Rita Süssmuth und Egon Bahr im sonntaz-Streit. Unsinn, meint der Geschichtsprofessor Wolfgang Reinhard.
BERLIN taz | Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) und der ehemalige Bundesminister Egon Bahr (SPD) haben die Politik zu Ehrlichkeit im Wahlkampf aufgefordert. "Mut zur Wahrheit hat Aussicht auf Erfolg", schreibt Süssmuth im Streit der Woche der sonntaz. "Ich muss nicht der Verlierer sein, wie von zu vielen angenommen wird." Gleichwohl gelte für sie die Devise: es kommt darauf an, wie man die Wahrheit sagt: "Ob in Verantwortung und Sorge um den Menschen, oder als Faktum, mit dem ich die Menschen allein lasse." Ehrlichkeit brauche eine verständliche, authentische und glaubwürdige Übermittlung.
Alle Beiträge zum Streit der Woche lesen Sie in der sonntaz am 11./12. Juli 2009 - ab Samstag zusammen mit der taz am Kiosk.
Auch der Sozialdemokrat Bahr warnt vor der Versuchung zum Populismus. Denn Politiker seien auch nur Menschen, die ihren Mitmenschen etwas Angenehmes sagen wollen. Doch es gelte auch für Politiker, was für andere zutreffe: "Alles was man sagt, muss wahr sein, aber man muss nicht alles sagen, was wahr ist." Der Mitgestalter von Willy Brandts Ost-Politik fordert die Politiker auf, nicht zu lügen. "Wenn es nicht anders geht, kann man sagen: Zu diesem Punkt kann oder soll oder will ich mich zurzeit nicht äußern", schreibt Bahr.
Politiker können nicht ehrlich sein, meint hingegen der Geschichtsprofessor Wolfgang Reinhard. Er hat Lügen als gesellschaftlich politisches Phänomen untersucht. Es sei bereits eine Lüge, wenn Politiker die Frage nach deren Ehrlichkeit bejahen würden, lautet seine Antwort. Politiker seien zum Lügen gezwungen, sie seien "die Sklaven ihres Geschäfts". Denn wer den politischen Selbstmord vermeiden wolle, dem bliebe nichts anderes übrig, als zu lügen, schreibt der Freiburger Historiker. Politik sei nie ohne Täuschungen und Intrigen zu betreiben. Die Wähler ihrerseits seien nicht weniger verlogen als die Politiker. Wegen Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Untreue, "haben wir keinen Grund, den Stab über unsere politische Klasse zu brechen."
Der Kabarettist Urban Priol schreibt, Politiker dürften es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Sie bliesen vor jeder Wahl die Backen auf: "Die Wähler liegen uns am Herzen - um am Tag danach von Demenz befallen zu werden." Außerdem äußern sich im Streit der Woche Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast, die italienische Satirikerin Sabina Guzzanti, der Buchautor Walter van Rossum ("Meine Abende mit Sabine Christiansen") sowie taz.de-User Sven Bensmann aus Kassel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee