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Rekordflut bei Schwimm-WMWundersamer Leistungssprung

Bei der Schwimm-WM überbieten sich die Athleten mit aberwitzigen Bestleistungen. Neuer Frontschwimmer ist der Deutsche Paul Biedermann.

Liegt es nur am neuen Anzug? Paul Biedermann schwimmt bei der WM in Rom von Rekord zu Rekord. Bild: reuters

ROM taz | Eine schöne Angewohnheit musste Michael Phelps bereits sausen lassen, seit die Konkurrenz in ihren getunten Badeanzügen außer Rand und Band geraten ist: Ein ruhiger Start in den Tag. Denn sein aktuelles Problem bei der WM in Rom beschrieb der 14-malige Olympiasieger nach seinem Vorlauf über 200 Meter Freistil so: "Die Jungs schwimmen hier schon am Morgen so schnell, darauf muss ich mich einstellen."

Der lockere Aufgalopp zu den Finals fällt für Phelps in Rom also flach - und Paul Biedermann, die erstaunlichste Erscheinung unter all den entfesselten Bahnenziehern, konnte der Superstar am Montag aus nächster Nähe beäugen. 16 Stunden, nachdem der Hallenser den ohnehin schon fantastischen Weltrekord des australischen Schwimmers Ian Torpe über 400 Meter Freistil geknackt hatte, sprang Biedermann im Foro Italico wieder ins Becken. Zum Vorlauf in seiner Paradedisziplin, den 200 Metern Freistil.

Hier war der furiose Deutsche als Vorlaufschnellster drei Zehntel rascher unterwegs als der berühmte US-Amerikaner. Wobei der auffallend entspannte Phelps auch am Montag noch mit dem Biedermann-Blitz aus heiterstem Himmel auf der 400-Meter-Strecke beschäftigt war: "Ich kann es immer noch nicht fassen, dass die Zeit von Ian Thorpe gefallen ist. Das war der beste Weltrekord von allen. Und es ist einfach verrückt, diese Marke fallen zu sehen", schüttelte der Alleskönner im Becken ungläubig das Haupt.

Phelps selbst tritt in Rom in einem Modell seines Sponsors Speedo an, das im letzten Jahr noch all jenen Schwimmern die Knie schlottern ließ, die es nicht am Leib trugen. In der Welt kunststoffbeschichteter Superanzüge gilt Phelps Wassersportdress inwischen als Antiquität, während Kollege Biedermann dank seines Ausrüsters Arena nun das Beste vom Besten trägt. Reden möchte Phelps über solche Dinge nicht, er will einfach nur schwimmen.

Die Fakten

Männer, 400 m Freistil: 1. Paul Biedermann (Halle/Saale) 3:40,07 Min. WR; 2. Oussama Mellouli (Tunesien) 3:41,11; 3. Zhang Lin (China) 3:41,35

Männer, 4 x 100 m Freistil: 1. USA (Michael Phelps, Ryan Lochte, Mattew Grevers, Nathan Adrian) 3:09,21 Min.; 2. Russland (Lagunow, Gretschin, Isotow, Suchorukow) 3:09,52; 3. Frankreich (Gilot, Bernard, Mallet, Bousquet) 3:09,89

Frauen, 400 m Freistil: 1. Federica Pellegrini (Italien) 3:59,15 Min. WR; 2. Joanne Jackson (Großbritannien) 4:00,60; 3. Rebecca Adlington (Großbritannien) 4:00,79

Frauen, 4 x 100 m Freistil: 1. Niederlande (Inge Dekker, Ranomi Kromowidjojo, Femke Heemskerk, Marleen Veldhuis) 3:31,72 Min. WR; 2. Deutschland (Britta Steffen/Berlin, Daniela Samulski/Essen, Petra Dallmann/Heidelberg, Daniela Schreiber/Halle/Saale) 3:31,83 DR; 3. Australien (Lisbeth Trickett, Marieke Guehrer, Shayne Reese, Felicity Galvez) 3:33,01

Biedermann dagegen räumte, als plage ihn das schlechte Gewissen, gleich nach seinem wundersamen 400-Meter-Weltrekord ein, dass er sich nun Fragen werde gefallen lassen müssen. Fragen zu seinem Leistungssprung von sechseinhalb Sekunden über 400 Meter in einem einzigen Monat, der mit seiner Berufsbekleidung allein nicht zu beantworten ist, zumal sich der Praktikant der Halleschen Wasserwerke Anfang des Jahres das Epstein-Barr-Virus eingefangen hatte und fünf Wochen nicht ins Wasser konnte.

300 Trainingskilometer fehlten im dadurch, das sei "nicht aufzuholen", erklärte sein Heimcoach Frank Embacher noch vor sechs Wochen. Und jetzt hat sein fixer Schüler Thorpes Fabelrekord getilgt - auf Biedermanns Nebenstrecke wohlgemerkt.

Über die 200 Meter Freistil kratzt Biedermann nun sogar an Phelps Thron. Auch wenn Biedermann das anstehende Duell beim Gedanken an den Pekinger Siegesrausch des Konkurrenten gestern Mittag noch ehrfurchtsvoll einschätzte: "Wenn ich acht Mal olympisches Gold gewonnen hätte, würde mich gar nichts mehr erschrecken."

Zunehmend in Betracht zu ziehen ist dafür der Schrecken, den Meldungen über weitere Dopingvergehen deutscher Spitzensportler - diesmal im DSV - auslösen würden. Denn nicht nur Biedermann brilliert neuerdings mit unglaublichen Zeiten. Auch die Teamkollegin Britta Steffen schwingt sich seit der WM-Qualifikation Ende Juni in Berlin in ihrem neuen Adidas-Dress von Weltrekord zu Weltrekord.

Die Bestmarke über 100 Meter Freistil hat die Olympiasiegerin, die Dopingpraktiken gegenüber dieser Zeitung als unvereinbar mit ihren "Grundsätzen" und ihrer "Moral" bezeichnet hat, als Startschwimmerin der deutschen Staffel am Sonntag zum dritten Mal binnen einem Monat pulverisiert.

Paul Biedermann seinerseits erklärte nach seinem 400-Meter-Flug am Wochenende kurzum: "Ich bin absolut sauber. Allein in diesem Jahr hatte ich schon um die 20 Dopingkontrollen." Nicht zu vergessen: Biedermann und Steffen sind am Ufer des Tibers nicht allein auf weiter Flur: Allein der erste Finaltag schwemmte sechs Bestmarken aus den Rekordlisten des Schwimmsports.

Und verantwortlich hierfür waren nicht nur Branchengrößen wie die Italienerin Federica Pellegrini, sondern auch Überraschungsrekordler wie die erst 15-jährige Schwedin Sarah Sjöström oder Ariana Kukors, 20, aus den USA.

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4 Kommentare

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  • U
    ulf

    Welcome to the freak show. Die Tour war als Gladiatorenspektakel geplant und hatte mit Sport wenig zu tun. Wenn nun Sport-Disziplinen zum Spektakel verkommen, sollte man diese begraben. Frevelhaft erscheint mir deshalb eine mit Zwangsabgaben gepäppelte einheimische Olympiabewerbung, die es bei derzeitiger Lage zu verhindern gilt. Vermutlich lassen sich in der blut- und muskelaufbereitenden Industrie weniger Unternehmen anlocken, aber das sollte es uns Wert sein. Sport ist Mord; dieser blöde Spruch aus längst vergangenen Schulzeiten hat mittlerweile eine ernste Bedeutung. Und jeder weiss es.

  • A
    antares

    Egal ob Leichtathletik, Tour de France oder Schwimmen. Egal von welchem Land: Die Topleute sind vermutlich alle gedopt.

    Ich schaue mir solche Monsterspektakel seit 2006 nicht mehr an.

  • L
    lena

    Man bekommt das Gefühl, dass mittlerweile der Radsport "geopfert" wurde, damit Doping mit anderen Sportarten möglichst nicht in Zusammenhang gebracht werden. Ach die so "heile" Welt! Und nur weil man in diesem Jahr schon 20 mal getestet wurde und nichts nachgewiesen werden konnte, heißt es doch nicht, dass man nicht doch gedopt war. Dies ist alles nur noch lächerlich.

  • O
    ole

    Weshalb so zurückhaltend?

    Bei Phelps und Co, bei den Chinesen und den Ostblockathleten, bei Contador und Lance und allen Radsportlern sowieso war man doch auch nicht zimperlich, wenn es um's wilde Spekulieren geht. Nur zu, nur zu. Keine falsche Bescheidenheit.