Rückschlag im Kampf gegen das Poliovirus

Bis Ende des Jahres sollte die Kinderlähmung weltweit besiegt sein. Doch so einfach wie ursprünglich gedacht lässt sich dieses Ziel nicht erreichen

Polio oder Kinderlähmung gilt in der westlichen Hemisphäre seit 1994 als besiegt – Resultat einer der erfolgreichsten Gesundheitskampagnen der Menschheitsgeschichte. Doch nun bahnt sich das Virus seinen Weg zurück in die industrialisierte Welt, ausgerechnet durch die Hintertür einer kleinen Amish-Gemeinde im US-Bundesstaat Minnesota. Ende September wurde bei einem acht Monate alten Säugling Polio diagnostiziert. Vier weitere Kinder einer benachbarten Farm sind ebenfalls infiziert, meldeten die US-Gesundheitsbehörden.

Die Amish, eine sehr zurückgezogen lebende, anabaptistische Religionsgemeinschaft, lehnen vielerorts Errungenschaften der modernen Welt wie zum Beispiel Autos und Impfungen aus Glaubensgründen ab. Dass ausgerechnet in dieser sehr einsam gelegenen Amish-Gemeinde nun fünf Poliofälle entdeckt wurden, bereitet nicht nur den ortsansässigen Gesundheitsbehörden Kopfzerbrechen.

Experten befürchten vielmehr, dass die Kinderlähmung, die in einem von 200 Infektionsfällen zur gefährlichen Paralyse – einer Lähmung der motorischen Nerven – führt, viel schwerer auszurotten ist, als bislang angenommen wird.

Das Virus, das über Exkremente ausgeschieden und über den Mund aufgenommen wird, hatte den Säugling wahrscheinlich durch einen Zwischenwirt erreicht. Tests zeigten, dass es sich um eine mutierte Version eines Virus handelt, der bei Polio-Schluckimpfungen mit abgeschwächten Lebendviren verwendet wurde, berichtete Harry Hull, der zuständige Epidemiologe des Bundesstaates Minnesota.

Diese Impfvariante wird in den USA seit dem Jahr 2000 nicht mehr angewendet. Unter anderem, weil sie laut Statistik bei einer von 13 Millionen Impfungen Paralyse auslöst. Mutationen können dann auftreten, so Hull, wenn das Virus über Jahre hinweg von einem ungeimpften Kind zum nächsten übertragen wird. Das identifizierte Virus, so vermutet Jane Seward, Impfexpertin der US-Zentrums für Krankheitskontrolle und -prävention, könnte so circa zwei Jahre zirkuliert haben. Weitere Poliofälle, insbesondere unter den Amish, werden daher vermutet.

Weltweit werden 1.486 gemeldete Poliofälle gezählt. Erstmals registrierte die Weltgesundheitsorganisation WHO in diesem Jahr jedoch mehr Polioerkrankungen in Ländern mit Wiederansteckungen als in Ländern, in denen das Virus endemisch ist (796 Fälle gegenüber 552). In Ländern wie Nigeria, Indien, Jemen und Pakistan gilt das Poliovirus als endemisch.

Experten der WHO wiesen am 28. Oktober, dem Welt-Polio-Tag, darauf hin, dass einerseits Fortschritte in gefährdeten Ländern erzielt werden, andererseits die Poliofreiheit in westlichen Ländern nur eine scheinbare Gewissheit sei.

Zunehmend problematisch werde die Impfmüdigkeit in den industrialisierten Ländern. Dort ließen immer mehr Eltern ihre Kinder nicht mehr gegen Polio impfen. Gefährlich sei dies insbesondere, da Polio-befallene Patienten mit Immundefekten, wie im Falle des Amish-Säuglings, dank besserer medizinischer Therapiemöglichkeiten hohe Überlebenschancen haben. Dadurch erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Polioviren ebenfalls im Menschen überleben, mutieren und im schlimmsten Fall der Ausgangspunkt einer neuen Polioepidemie werden. Deshalb dürfte auch nach einer erfolgreichen Polio-Eradikation die Impfung noch längere Zeit notwendig bleiben, schätzen die US-Gesundheitsbehörden nun.

Bis Ende 2005 sollte Polio eigentlich weltweit besiegt sein. Das war das Ziel der „Global Eradication Initiative“ der WHO und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Unicef. Doch der erneute Ausbruch des Virus in den USA zeigt, dass das Ziel nun in weite Ferne rücken könnte.

Weltweit kann die Infektion nur mit massiven Investitionen wirklich gestoppt und damit ein Ausbruch auch in Europa verhindert werden. Noch im Juli 2005 schätzte Unicef, dass bis Ende des Jahres noch 75 Millionen US-Dollar zur wirksamen Poliobekämpfung fehlten. Für 2006 schätzt das Hilfswerk den weltweiten Finanzbedarf auf rund 200 Millionen Dollar.

ADRIENNE WOLTERSDORF