Mehr als 16.000 Firmenpleiten: Wirtschaftskrise beflügelt Insolvenzen
16.650 Betriebe haben im ersten Halbjahr Insolvenz angemeldet, Tendenz steigend. Und auch wenn ein Unternehmen saniert werden kann, gehen Arbeitsplätze verloren.
BERLIN taz | Es passiert jeden Tag und überall. In x-beliebigen Betrieben. Zum Beispiel in Mönchengladbach. Zum Beispiel Alex Hübner. "Wenn du irgendwo alt werden willst, geh zu Schlafhorst", hatten Hübners Eltern vor 26 Jahren gesagt, als er gerade mit der Schule fertig war. Immerhin baute das Traditionsunternehmen schon seit Ende des 19. Jahrhunderts am Niederrhein Textilmaschinen und gehörte mit 5.000 Leuten zu einem der größten Arbeitgeber der Stadt. Dass es nicht so einfach sein könnte mit dem Bleiben bis zur Rente, hat Hübner schon in den letzten Jahren gesehen. Die tiefe Strukturkrise der Branche hat dazu geführt, dass Schlafhorst erst von der Saurer-Gruppe und diese dann von dem Schweizer Mischkonzern Oerlikon geschluckt wurde. Nun geben die Folgen der globalen Finanzkrise dem Unternehmen den Rest. 2007 verkaufte Schlafhorst noch 320 Rotorspinnautomaten. In diesem Jahr werden es weniger als 50 sein. Zu wenig für einen eigenen Standort, findet man bei Oerlikon.
Nein, in Deutschland ist die Krise noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil. Mit den Stellenstreichungen geht es erst richtig los. Praktisch an jedem 20. Arbeitsplatz wird derzeit kurzgearbeitet. Das hat den Unternehmen Zeit verschafft, einen Überblick über das Ausmaß der Krise zu gewinnen. Ein Einbruch um 85 Prozent binnen zwei Jahren wie bei Schlafhorst ist viel, aber kein Einzelfall.
In weiten Teilen des Maschinenbaus ist das Minus zweistellig und damit erst in etlichen Jahren wieder aufzuholen. Auch die letzten 463 Beschäftigten des Werks im Schlafhorst Businesspark in der Mönchengladbacher Landgrafenstraße werden dieser Tage Post bekommen. Das hat ihnen die Geschäftsführung kürzlich auf einer Betriebsversammlung erklärt.
Arcandor: Der Konzern, zu dem unter anderem Karstadt und Quelle gehören, stellte im Juni Insolvenzantrag. Die Verhandlungen laufen. Eine Gläubigerversammlung will Mitte August über die Zukunft entscheiden. Nach dem Rückzug von Insolvenzverwalter Horst Piepenburg könnte dabei eine Zerschlagung, also ein Verkauf einzelner Häuser und Geschäftsbereiche, anstehen. Es geht um bis zu 52.000 Arbeitsplätze.
Woolworth: Seit April insolvent. 150 der 310 Filialen der Kaufhauskette sind weiter geöffnet. Die Verhandlungen laufen. Alle 9.200 Mitarbeiter werden in eine Beschäftigungsgesellschaft ausgegliedert, aus der sich Interessenten für Teilgeschäfte Mitarbeiter aussuchen können.
Hertie: Insolvenzantrag im Juli 2008. Alle Verhandlungen sind gescheitert. Dieser Tage werden die Warenhäuser geschlossen. Auch die letzten 2.600 von 4.100 Mitarbeitern, mit denen Hertie in Insolvenz ging, sind gekündigt.
Qimonda: Insolvent seit April. Beim Halbleiterhersteller wird bereits das Tafelsilber verscherbelt, nachdem sich bislang kein Investor für die Gesamtübernahme gefunden hat. Von 4.600 Beschäftigten zu Beginn der Insolvenz sind 2.600 in einer Transfergesellschaft geblieben, deren Finanzierung Mitte August ausläuft. 480 arbeiten noch an den Standorten.
Rosenthal: Der Porzellanhersteller meldete im Januar Insolvenz an. Der Insolvenzverwalter schloss mehrere Standorte und entließ 300 der ursprünglich 1.300 Mitarbeiter. Nun übernimmt der italienische Besteckhersteller Sambonet das Unternehmen mit allen verbliebenen Beschäftigten.
Kampa: Der ehemals größte Fertighaushersteller Europas ist seit März insolvent. Sämtliche Verhandlungen scheiterten, das Unternehmen gibt es nicht mehr. Ein ehemaliger Manager hat die Lizenzen aufgekauft. Von den 700 Mitarbeitern übernahm er nur 25 in sein neues Unternehmen.
Schiesser: Der Wäscheproduzent ist seit Februar insolvent, produziert aber weiter. Am Kauf interessiert ist der Modedesigner Wolfgang Joop.
Märklin: Der Modelleisenbahnbauer hat im Februar Insolvenzantrag gestellt. Das Unternehmen wird saniert, von 1.417 Mitarbeitern wurden 397 entlassen.
Wehmeyer: Die 2008 insolvent gegangene Textilhandelskette hat einen Investor gefunden: die Firma Techno Lifestyle des Inders Rajive Ranjan. 23 von 36 Filialen blieben bestehen, von einst 900 Stellen vorerst 500 erhalten.
253 Mitarbeiter werden dann jeden Tag in die bisherige Zweigstelle Übach-Palenberg pendeln - und sich 2010 einen ganz neuen Arbeitsplatz suchen müssen. Hübner wird wohl zu Letzteren gehören, weshalb er seinen richtigen Namen auch nicht in der Zeitung lesen will. "Ich will es meinen Bekannten selbst sagen, wenn ich arbeitslos bin", meint er. "Vielleicht sag ich auch gar nichts. Oder erst, wenn ich einen neuen Job habe."
Dass er schnell etwas findet, kann er sich im Moment allerdings nicht vorstellen. Auch wenn die Indikatoren, wie es in der Wirtschaftspresse heißt, andeuten, dass die Talfahrt der deutschen Unternehmen bald zu Ende sein könnte: Im ifo-Geschäftsklimaindex schätzten die Entscheider in den Unternehmen im Juli die aktuelle Geschäftslage erstmals in diesem Jahr besser ein als im Monat davor.
Auftragseingänge, Produktion und Umsätze in der Gesamtindustrie steigen seit Mai wieder. Allerdings auf einem niedrigen Niveau. Selbst wenn die Rezession nun vorbei sein und die Wirtschaft wieder wachsen sollte, kann es dauern, bis sie wieder auf dem Stand von 2007 ist. Auch wenn es in der zweiten Jahreshälfte wieder besser wird, dürfte die Leistung aufs Gesamtjahr gerechnet um 6 Prozent schrumpfen, haben die Konjunkturforscher der führenden Wirtschaftsinstitute in ihrem Gemeinschaftsgutachten vorhergesagt.
Für die nächsten Jahre rechnen sie mit einem Wachstumspotenzial von durchschnittlich 0,9 Prozent. Jeder kann sich leicht ausrechnen, dass das Niveau von vor der Krise damit erst 2017 wieder erreicht würde. Selbst wenn die Wirtschaft mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit der Jahre 1995 bis 2008 zulegen und jährlich um 1,5 Prozent wachsen würde, "wären wir erst 2015 wieder auf dem Wohlstandsniveau von 2008", sagt Udo Ludwig, der Konjunkturexperte des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle.
Klar, dass nun ein Unternehmen nach dem anderen Sparprogramme auflegt. Allein bei Heidelberger Druckmaschinen sind es 2.000 Arbeitsplätze, beim Gesamthafenbetriebsverein in Bremen und Bremerhaven 1.000, beim Maschinenbauer Koenig & Bauer wie auch beim Halbleiterhersteller NXP jeweils 800, beim Stahlhändler Klöckner & Co 700.
Rechnet man allein die Meldungen zusammen, in denen es um mindestens 200 Jobs geht, kommt man auf einen geplanten Abbau von über 50.000 Arbeitsplätzen. Und daneben gibt es noch die vielen kleineren Unternehmen aus allen möglichen Branchen, die es nur in die Meldungsspalte der Lokalpresse schaffen. Die IKA-Werke in Staufen, weltweit führend in der Labortechnik, oder der Hanauer Matratzenhersteller Dunlopillo wollen beinahe jeden dritten Mitarbeiter entlassen.
Und die Gewerkschaften befürchten, dass viele Unternehmen ihre Streichpläne erst nach der Bundestagswahl verkünden wollen. "Das kennen wir noch von 2005", sagt Helga Schwitzer, Vorstandsmitglied bei der IG Metall. Damals hatten etliche Unternehmen, darunter Mercedes, Volkswagen, Siemens, Infineon und Reemtsma, kurz nach dem Wahltag bekannt gegeben, dass sie tausende Stellen streichen wollten.
Schwitzer fordert ein Moratorium, "mit dem sich die Beteiligten verpflichten, betriebsbedingte Kündigungen zu unterlassen und Kurzarbeit bis zum Letzten auszuschöpfen". Beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall hält man das für keine gute Idee. Die Unternehmen hätten bis jetzt vor allem in die Arbeitsplatzsicherung investiert, heißt es im aktuellen Gewinnreport des Verbands. Auch deshalb drohten vielen jetzt Verluste. "Nun wächst der Druck auf die Unternehmen, mit Anpassungen bei Personalkosten und Beschäftigung zu reagieren", sagt Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser.
Für etliche Unternehmen und ihre Belegschaften käme ein Moratorium zu spät. Sie sind bereits insolvent und können nur hoffen, nicht ganz zerschlagen zu werden. Nach Hochrechnungen der Wirtschaftsauskunftei Creditreform meldeten im ersten Halbjahr diesen Jahres 16.650 Firmen Insolvenz an, gut 14 Prozent mehr als vor einem Jahr. Und der Trend soll sich noch fortsetzen: Für das Gesamtjahr rechnet die Kreditversicherung Euler Hermes mit 35.000 Pleiten, 19 Prozent mehr als 2008.
Schon jetzt stehen deswegen 254.000 Stellen auf der Kippe, bis zum Jahresende könnten es 540.000 werden, sagt Creditreform-Vorstand Helmut Rödl: "Die schwere Wirtschaftskrise zieht immer mehr deutschen Unternehmen den Boden unter den Füßen weg." Das bestätigt auch eine Umfrage von Euler Hermes unter den Insolvenzverwaltern von 21.000 Unternehmen: Jedes dritte wäre ohne die Krise nicht insolvent geworden.
Selbst wenn ein Unternehmen in der Insolvenz saniert werden kann und einen Investor findet, gehen im Laufe des Verfahrens in aller Regel Arbeitsplätze verloren. Auch der Autozulieferer Stankiewicz beschäftigte noch 1.300 Leute, als er im November Insolvenz anmeldete, 970 überstanden das Insolvenzverfahren. Nun kauft die US-amerikanische IAC-Group die Vermögenswerte, übernimmt aber nur 840 Mitarbeiter.
Am schlimmsten dürfte es den Maschinenbau treffen. Die Münchner Unternehmensberatung Alvarez & Marsal geht davon aus, dass jedes vierte der rund 6.000 Unternehmen gefährdet ist. Die größten Probleme haben dabei Textil-, Druck- und Baumaschinenhersteller. Kraftwerks- und Energieanlagenbauer dagegen haben die Krise weitgehend unbeschadet überstanden.
Der künftige Ex-Schlafhorster Hübner liebäugelt deshalb mit einer Weiterbildung und würde auch aus Mönchengladbach wegziehen, wo die Arbeitslosigkeit mit zuletzt 12,6 Prozent bereits deutlich über dem Bundesschnitt von 8,1 und auch über dem nordrhein-westfälischen Landeswert von 9,3 Prozent liegt. "Ich habe hier die letzten Jahre gut verdient, ich kann die Qualifizierung sogar selbst bezahlen", sagt Hübner, der alleinstehend ist und nie eine eigene Familie gehabt hat. Damit ist er nun doch ein Einzelfall.
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