DIE KASTRATION LAUT FREUD UND DIE ANGST VOR SPRACHREGELUNGEN
: Performativer Pappkamerad

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VON ARAM LINTZEL

Die ewige Wiederkehr der PC-Debatten. Das eigentlich Erstaunliche an den neuesten Streits darüber, was gesagt werden darf und was nicht, ist ja, dass das alles so oder anders schon längst gesagt wurde und dennoch aus irgendwelchen Gründen immer wieder neu gesagt werden muss. Ob bei Themen wie Nation, Beschneidung, Israelkritik, Rassismus, Sexismus, Mutterrolle, Feminismus, staatliche Kinderbetreuung usw.: Seit Jahren fühlt sich irgendwer leibhaftig bedroht von „Sittenwächtern“, „Tugendterror“, „Umerziehern“ oder eben ganz generell von dem „politischen Korrekten“ als solchem. Dagegen muss dann zwanghaft stets aufs Neue Stellung bezogen werden, schon allein für die Meinungsfreiheit. In Wahrheit ist „politisch korrekt“ natürlich eine postpolitische Denunziation, mit der jeder politische Einwand abgewehrt werden soll.

Bereits vor 17 Jahren schrieb Diedrich Diederichsen in „Politische Korrekturen“: „Fast alle PC-Topoi sind Inszenierungen von Kastrationsangst, immer soll uns etwas weggenommen werden (und gleichzeitig etwas anderes aufgezwungen).“ Bevorzugte aber nicht alleinige Träger dieser Angst sind Männer, die um ihre Macht fürchten, meistens rechte, immer mal wieder aber auch linke. Nun könnte man zur Entlastung von strukturell bedrohten Subjekten wie Harald Martenstein, Jan Fleischhauer, Wolfgang Kubicki oder Denis Scheck darauf hinweisen, dass die Kastration laut Freud zu den menschlichen Urfantasien gehört und nicht einmal als Drohung ausgesprochen werden muss, um wirksam zu sein. Die Männer könnten also nichts dafür können, ihre Ängste wären unentrinnbar und absolut zwingend.

Doch ist im Abwehrkampf gegen PC eben immer Inszenierung im Spiel. Und so ist denn auch das repressive PC-Überich, gegen das die genannten Akteure und viele andere heroisch ankämpfen, nichts anderes als ein performativer Pappkamerad, der aufgestellt werden muss, damit sich die Kämpfenden verfolgt und im ewigen Recht fühlen können. Die PC-Hasser tun so, als habe immer noch ein Retro-Überich aus den fünfziger Jahren das Sagen, eines, das verbietet und Triebe unterdrückt. Das hier zugrunde liegende Modell der Psyche ist unterkomplex: die Seele als Dampfkessel, der Ventile braucht, damit es nicht zum unkontrollierten Ausbruch von Aggression kommt. In dieser Logik ist es doch gut, wenigstens symbolisch ein bisschen Druck abzulassen, ein bisschen „Blackfacing“ schützt den „Neger“ davor, dass angestaute Aggressionen sich ganz unsymbolisch, nämlich körperlich entladen. In der gemeinen Dampfkessellogik kann auch Jakob Augstein seine haltlose Israelkritik als israelfreundlich ausgeben. Denn wer das kritische „Dampfablassen“ unterdrückt, müsse damit rechnen, dass der Kessel irgendwann ganz in die Luft fliegt. Davor muss man die Kritisierten mit vorauseilender Kritik retten. Das heißt in der Konsequenz: Die politisch korrekten Tugendwächter machen alles viel schlimmer, weil sie die mäßigenden Ventile in ihrem Verbotswahn dauerhaft verstopfen.

Der Einfachheit und Eitelkeit wegen unterschlagen die Anti-PC-Kämpfer, wie das Überich heutzutage wirklich funktioniert. Spätestens seit Lacan und Foucault wissen wir, dass Macht und Überich nicht mehr verbieten, sondern zum Bekennen, Genießen und Man-selbst-Sein auffordern. Es hat eben gerade rauszumüssen! Deshalb sind die, die sich pseudoheldenhaft der politischen Korrektheit entgegenstellen und ihren inneren Dampf ganz authentisch ablassen, keine Dissidenten, sondern tragische Untertanen, die exakt im Sinne des zeitgenössischen „Sei du selbst!“-Imperativs funktionieren. Dieses Überich ist kränkend für all die selbst denkenden und sich selbst verwirklichenden Männer. Denn – oh Schreck – es will ihren Phallus gar nicht mehr haben. „Nicht mal mehr kastriert sollen wir werden!“: Über diese schreckliche Wahrheit müssen sich die Leute hinwegtäuschen, indem sie ein zensierendes PC-Monstrum herbeiprojizieren. Die Angst vor dem Verlust spendet in der Verkennung trügerischen Trost. Denn wer kastriert werden soll, dessen Phallus könnte ja vielleicht doch noch etwas bedeuten.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist