: Das Helferinnensyndrom
Wie die Bundesagentur für Arbeit die Ausbildungschancen von Mädchen untergräbt, führt Helga Ostendorf gründlich in ihrem neuen Buch vor
VON CLAUDIA PINL
An der Spitze der besten Handwerksgesellen, die dieses Jahr in Nordrhein- Westfalen ihre Abschlussprüfungen machten, steht eine junge Maurerin. Vor gut zehn Jahren hätte sie diesen Beruf noch nicht ausüben dürfen: Erst 1994 fiel das Beschäftigungsverbot für Frauen im Bauhauptgewerbe. Inzwischen gibt es nur noch im Bergbau gesetzlich festgelegt frauenfreie Zonen.
Obwohl Frauen theoretisch Zugang zu allen 350 Ausbildungsgängen des dualen Systems haben, hat sich die Aufsplittung in „Männer-“ und „Frauenberufe“ weitgehend erhalten. Wie schon immer konzentrieren sich junge Frauen ganz überwiegend auf die Ausbildungen in Einzelhandel, Friseursalons und Arztpraxen. Allen Erkenntnissen zum Trotz, dass „Männerberufe“ im gewerblich-technischen Bereich die besseren Arbeitsmarktchancen, existenzsichernde Einkommen und größere Aufstiegschancen bieten. Und obwohl junge Frauen etwa für einen Elektroberuf genau so geeignet sind wie junge Männer.
Die Geschlechtersegregation in der beruflichen Bildung hat viele Ursachen: Unwissenheit und Vorurteile seitens der Eltern und Betriebe ebenso wie das gerade in der Pubertät starke Bedürfnis von Mädchen, durch die Wahl eines „Frauenberufs“ ihre Weiblichkeit darzustellen. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss politischer Rahmenbedingungen.
Helga Ostendorfs politologische Studie untersucht am Beispiel der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Berufsberatung den Beitrag politischer Institutionen zur herrschenden Geschlechterordnung. Dabei verdeutlicht die Autorin gleich zu Anfang einleuchtend ihren Standpunkt: Nicht das Denkmodell der Differenz, wonach es in der Welt nun einmal „weibliche“ und „männliche“ Sphären gibt, stand bei ihrer Untersuchung Pate. Ihr Ausgangspunkt ist die Gleichheit der Geschlechter, besser: der Grundsatz der Chancengleichheit, der Frauen wie Männern das Recht auf eine eigenständige Existenzsicherung und einen befriedigenden Beruf zugesteht.
Verstärkt die Berufsberatung die geschlechtliche Segmentierung der Berufe, oder wirkt sie ihr entgegen?
Das Fazit ist eindeutig: Die Berufsberatung der Agentur für Arbeit ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Nicht nur wirkt die Berufsberatung alles in allem der geschlechtlichen Aufsplittung des Ausbildungsmarkts nicht entgegen; sie ist Mitverursacherin dieses Zustands, der die Berufs- und Lebenschancen von Frauen in Deutschland beschneidet. Die Gründe sind vielfältig.
Wichtig ist die Art, wie die Bundesagentur für Arbeit ihre Berufsberater und -beraterinnen steuert. Die Behörde ist seit Jahrzehnten dem Denkmodell der Differenz verpflichtet, wonach es essenzielle Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Versuche seitens der Bundesregierung oder von Landesregierungen in den Siebziger- und Achtzigerjahren, Frauenpolitik stärker nach dem Prinzip der Gleichheit auszurichten und Frauen neue berufliche Wege zu eröffnen, gingen an der damaligen Bundesanstalt für Arbeit fast spurlos vorüber.
Noch Mitte der Neunzigerjahre verkündete der Abteilungsleiter Berufsberatung der Nürnberger Hauptstelle seinen Beratungsfachkräften, dass Frauen „vorrangig büroorientierte und erzieherische sowie pflegerische Tätigkeiten suchen“. Nicht nur liegen Aus- und Fortbildung in den Händen der Bundesagentur; auch das Fachwissen der Beratungskräfte speist sich fast ausschließlich aus hausinternen Quellen.
Die Befunde des zur Bundesagentur gehörenden Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus den Siebziger- und früher Achtzigerjahren, wonach Frauen mit gewerblich-technischer Ausbildung schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, werden ungeprüft auch zwanzig Jahre später verbreitet, obwohl neuere Untersuchungen eher das Gegenteil vermuten lassen.
Wie die Beratungsfachkräfte mit den Vorgaben aus Nürnberg umgehen, ist allerdings eine andere Sache. Es gibt von Agenturbezirk zu Agenturbezirk erhebliche Unterschiede in der Zahl von Mädchen, die eine gewerbliche-technische Ausbildung machen. Man könnte vermuten, dass beispielsweise ältere oder männliche Berater junge Frauen lieber in die pflegerischen oder Büroberufe vermitteln, jüngere Beraterinnen ihre Kundinnen lieber in Installations- oder IT-Berufen sehen. Solche Zusammenhänge fand Helga Ostendorf im empirischen Teil ihrer Arbeit nicht – und weist damit auch Eva Kreiskys These zurück, wonach „Männerbünde“ den Staat regieren. Eine hohe Mädchenquote in gewerblich-technischen Ausbildungsgängen hängt wesentlich vom Willen der Beratungsfachkräfte ab, sich bei ihrer Arbeit nicht von den antiquierten Geschlechterstereotypen der Bundesagentur leiten zu lassen, sondern auf eigene Erfahrungen zu setzen.
In Agenturbezirken mit hoher Mädchenquote in „männertypischen“ Berufen haben die Berater und Beraterinnen häufig Kontakte zu Betrieben und wissen daher, dass weibliche Auszubildende vor allem in größeren Industriebetrieben inzwischen willkommen sind; dass die zu erwartenden „besonderen Schwierigkeiten“, vor denen die Veröffentlichungen der Bundesagentur warnen, entweder nicht existieren oder überwindbar sind; schließlich, dass die Arbeitsmarktchancen der jungen Gesellinnen besser sind als in den meisten typischen „Frauenberufen“.
Aber auch Berufsberaterinnen und -berater, die zu überlastet sind, um selbst öfter in die Betriebe zu gehen, vermitteln Mädchen in gewerblich-technische Ausbildungen, wenn sie für die Erfahrungen anderer Akteure offen sind. Das können andere Kollegen sein, die örtlichen Frauenbeauftragten oder die Arbeitskreise „Schule und Wirtschaft“.
Zu viele Beratungskräfte gehen jedoch den bequemeren Weg und deuten den von Mädchen häufig geäußerten Wunsch, in ihrem zukünftigen Beruf „mit Menschen zu tun zu haben“, als Wunsch nach einem zuarbeitenden Helferinnenberuf. Das passiert um so leichter, weil Beratungskräfte zu wenig über konkrete Anforderungen, Inhalte und Arbeitsmarktchancen von Berufen wissen, um die Jugendlichen wirklich kompetent beraten zu können.
In ihrer Schlussbilanz empfiehlt Helga Ostendorf nachdrücklich die organisatorische Abkoppelung der Berufsberatung von der Bundesagentur für Arbeit. Von einer eigenständigen, dem Bund unterstellten Organisation „Berufsberatung“ verspricht sich die Autorin eine kompetentere, weniger durch bürokratische Verwaltungsarbeit belastete Beratung der Jugendlichen, als sie heute geleistet wird. Das setzt allerdings auch eine bessere Aus- und Fortbildung der Beraterinnen und Berater voraus. Ostendorf plädiert für mindestens ein Fachhochschulstudium.
Helga Ostendorf: „Steuerung des Geschlechterverhältnisses durch eine politische Institution. Die Mädchenpolitik der Berufsberatung“. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2005, 506 Seiten, 56 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen