Kokainsongs aus Mexiko: Die Kultur des Drogenkriegs
Im Norden Mexikos werden die Drogenbosse in der Populärkultur verherrlicht. Die staatlichen Sicherheitsoffensiven aber laufen ins Leere.
Die Meldungen überschlagen sich: Jeden Tag berichten Journalisten von neuen Toten im mexikanischen Drogenkrieg, Fotografen liefern Bilder von zerfetzten Körpern und hochgerüsteten Armeeeinheiten. Auch die mexikanische Künstlerin Teresa Magolles inszenierte Gewalt, um auf den brutalen Alltag in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Sie stellte Leichentücher und blutgetränkte Lappen zur Schau, die sie nach Schießereien auf Mexikos Straßen gesammelt hatte. Ihre Ausstellung, mit der sie ihr Land auf der diesjährigen Biennale in Venedig vertrat, nannte sie: "Über was könnten wir sonst reden?"
So wichtig viele Beiträge auch sein mögen, sie reduzieren das Problem auf seinen brutalsten Ausdruck, auf Folter, Mord und Terror. Dabei gibt es viel mehr zu reden, als Magolles Titel nahelegt. Hinter blutigen Tüchern und Mordstatistiken verbergen sich kulturelle und soziale Verhältnisse, die oft nur fragmentarisch vermittelt werden.
Der schnelle Tod ist in einigen Regionen Mexikos zum Teil einer fatalistischen Philosophie geworden, die von den Drogenbossen vorgelebt wird. Schutzheilige und Messen sollen für Sicherheit sorgen, Volkslieder - "Narcocorridos" - glorifizieren Waffen und wünschen den Mafiosi Gesundheit und gute Geschäfte. Der "Narco", wie die illegale Szene genannt wird, ist längst Kult im einstigen Land der Azteken und zugleich Lebensgrundlage für viele, denen der Staat nichts zu bieten hat.
"Wer mit dem Herrn zusammenarbeitet, der kennt keine Armut", verspricht ein Sänger namens "El Chapito - AK 47". Wie andere Bands, die sich "Los Tigres del Norte" oder "Tucanes de Tijuana" nennen, erzählt El Chapito in seinen Narcocorridos die Geschichten der Capos: Flucht aus dem Gefängnis, Schmuggel in Sportflugzeugen, Orgien mit Kokain und schönen Frauen. In vielen Kneipen und Bussen im mexikanischen Norden laufen die mit Gitarre, Bass und Ziehhamonika unterlegten Lieder. Die Raubkopien der "Tucanes de Tijuana" sind noch auf dem kleinsten Gemüsemarkt zu finden, die "Tigres" können bei Konzerten mit zehntausenden von Fans rechnen.
Narcocorridos sind Volkskultur, sie reflektieren einen Lebensstil, der bei nicht wenigen Mexikanerinnen und Mexikanern auf Akzeptanz stößt. "Dieses populäre Genre ist das Symbol einer Gegenkultur, die von der politischen Gesellschaft des Landes nicht anerkannt wird", erklärt Miguel Olmos von der NGO "Colegio de la Frontera Norte". Oft stehen die Musiker einem der lokalen Capos nahe. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort für die falsche Seite singt, könnte das mit dem Leben bezahlen. Immer wieder werden Bandmitglieder von Killertrupps der Kartelle gefoltert oder ermordet.
Auch "El Chapito - AK 47" wird von einem der Großen des Geschäfts finanziert. Darauf verweist schon sein Name. Neben der AK 47, dem in der Mafia beliebten Kalaschnikow-Gewehr, steht er für die Nähe zu "El Chapo", dem "Kleinen", wie Mexikos meist gesuchter Drogenboss Joaquín Guzmán wegen seiner geringen Körpergröße genannt wird. Sieben Millionen US-Dollar Kopfgeld hat die US-Regierung auf den Mann ausgesetzt - ein Bruchteil des auf eine Milliarde US-Dollar geschätzten Vermögens des 53-Jährigen, der im Frühjahr auf der Forbes-Liste der weltweit reichsten Menschen zu finden war.
Trotz des Steckbriefs bewegt sich Guzmán in seiner Heimat, dem "Goldenen Dreieck" der Bundesstaaten Sinaloa, Durango und Chihuahua, wie ein Fisch im Wasser. Bewacht von einer Armada von Bodyguards zelebrierte der Chef des Sinaloa-Kartells im Sommer 2008 in einem Dorf seine Hochzeit mit der 18-jährigen örtlichen Schönheitskönigin. Regelmäßig taucht El Chapo samt Geleitschutz in Restaurants auf, um dort ausgiebig mit Freunden zu feiern. Andere Gäste werden kurzerhand eingeladen, ob sie wollen oder nicht. Denn die Gaststätte können sie vorübergehend dann nicht verlassen, ihre Handys werden eingesammelt. Bis die Soldaten eintreffen, mit denen Mexikos Präsident Felipe Calderón die Mafia kleinkriegen will, ist der "Kleine" längst über alle Berge. Zum Hohn der Sicherheitsbehörden singt "El Chapito - AK 47" über seinen Gönner: "Er vergnügt sich mit seinen Leuten, und es gefällt ihm, wenn sie sich vergnügen." Und resümiert: "Er hat alles unter Kontrolle."
Solche Kaltschnäuzigkeit kommt gut an, auch wenn jeder weiß, dass sie auf korrupten Beamten und skrupelloser Gewalt basiert. Für viele junge Männer, denen der trostlose Alltag und die wirtschaftliche prekäre Situation in der Provinz keine Perspektive bietet, ist der Lifestyle der Narcos zum Lebensinhalt geworden. Die Capos garantieren finanzielle Absicherung und die nötigen Utensilien zur Anerkennung in einer von Machismus geprägten Gesellschaft: Waffen, Alkohol und viele Drogen. Vergoldete Kalaschnikows, knapp bekleidete Frauen, kiloweise Kokain, schicke Pickups und Porträts der jeweiligen Bosse sind denn auch auf den Spots zu sehen, die Narcocorrido-Bands zur Begleitung ihrer Songs auf die Youtube-Webseite stellen.
Auch Frederico C. freut sich schon auf den neuen Wagen, den er nach der Ernte kaufen will. "Die 22er ist für die Tiere, die Neun-Millimeter ist für den Krieg", erklärt der junge Mann und blickt auf seine Waffen. Er lebt in der Gegend um die Kleinstadt Creel, nahe dem Goldenen Dreieck. Mehrere Jahre hat er bereits im Gefängnis verbracht. Wegen Mordes. Dennoch geht das illegale Geschäft für ihn weiter. Seine Familie lebt seit Jahrzehnten vom Marihuana-Anbau. Schließlich bringt Hanf das Hundertfache dessen ein, was sich mit Mais oder Bohnen verdienen lässt.
Die Insignien des "Narco" sind hier an jeder Ecke präsent: die Radios spielen Narcocorridos, die Männer tragen Pistolen und Krokodillederstiefel zur Schau, in fast jedem Laden, jeder Kneipe hängen Bilder von Jesús Malverde, dem Schutzheiligen der Drogenmafia. In der Landeshauptstadt Culiacán hat man Malverde bereits eine eigene Kapelle gebaut, einen Pilgerort für jeden, der sich dem Geschäft mit Kokain, Heroin oder Marihuana widmet.
Kaum einer hier freut sich, wenn Calderóns Spezialeinheiten Jagd auf Leute wie Guzmán machen. Nicht nur, weil dann die illegalen Felder in Gefahr sind. Zwar ist der Capo nicht für alle, wie El Chapito singt, ein "wahrer Freund", doch wirtschaftliche Abhängigkeit, kulturelle Einbindung und natürlich die Angst vor Repressalien halten davon ab, sich gegen die Kartelle zu stellen. Solche Strukturen, erklärt Ivan Briscoe vom Madrider politikwissenschaftlichen Institut FRIDE, "bedeuten für die Ausgeschlossenen einen Überlebensmechanismus und zugleich ein neues Modell politischer und wirtschaftlicher Organisierung, das sich den Regeln des freien Marktes und des Diskurses vom Minimalstaat anpasst".
Eine besondere Art der Verbundenheit zur Bevölkerung postuliert die Mafiaorganisation "La Familia Michoacana" aus dem zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán. "Die Familie" trat erstmals in Erscheinung, indem sie in einer regionalen Tageszeitung eine Anzeige schaltete und dort ihr "Zwölf-Punkte-Programm" vorstellte. So wolle man "die Gesellschaft für die Mission und die Ziele des Unternehmens sensibilisieren", erklärte der "Pressesprecher" der Organisation. In den armen Regionen werde die "Familie" für Nahrung, Literatur und bessere Bildungsmöglichkeiten sorgen, vor allem aber werde man Michoacán vor der Gewalt und den Drogen "auswärtiger Mafiaorganisation" schützen.
De facto geht La Familia wie jedes andere Kartell vor, sie legt jedoch Wert auf Vermittlung. Regelmäßig hinterlassen die Mörder neben enthaupteten Leichen Nachrichten, in denen sie etwa klarstellen: "Die Familie mordet nicht für Geld, sie mordet keine Frauen oder Unschuldige. Damit es alle wissen: es stirbt, wer sterben muss, das ist göttliche Gerechtigkeit." Mitglieder der Bande hängen Transparente an Brücken auf, in denen sie beispielsweise kritisieren, dass das mexikanische Militär mit feindlichen Kartellen zusammenarbeite.
Auf diese Art der Kommunikation verweist auch die Künstlerin Margolles. In Venedig ließ sie auf blutige Tücher mit goldfarbenem Faden einen Satz sticken, wie ihn "La Familia" gerne hinterlässt: "Lernt endlich, uns zu respektieren".
Nicht alle Kartelle treten so in der Öffentlichkeit auf wie "die Familie". Doch deren Vorgehen verdeutlicht die Philosophie, auf die das gesamte Milieu baut. Auf der Grundlage von religiös konnotierter Moral, sozialen Versprechen, autoritärer Herrschaft und traditionellem Machismus bietet die Mafia eine Gegenkultur, die zudem wirtschaftliche Sicherheit garantiert. Das ist der Boden, auf dem jene gewalttätigen Exzesse wachsen, die nun in Form von unglaublichen Meldungen und ekelerregenden Bildern in den Medien erscheinen.
Dagegen setzt Präsident Calderón in erster Linie auf militärische Gewalt. Und das mit mäßigem Erfolg. Zwar konnten Sicherheitskräfte einige Capos hinter Gitter bringen, die Zahl der Toten im Krieg der Soldaten und Kartelle ist aber seit dem Beginn der Amtszeit des Konservativem im Dezember 2006 auf rund 13.000 Menschen gestiegen. Den Kampf gegen die brutalen Verhältnisse wird Calderón so nicht gewinnen können.
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