die wahrheit: Westerwelle wegdenken
Kann man jemanden mit bloßer Gedankenkraft loswerden?
Mesut Özil ist nun aus der Nationalelf nicht mehr wegzudenken, sagte die Stimme im Radio. Noch vor einiger Zeit war es demnach noch möglich, Mesut Özil wegzudenken, schloss Geruschke messerscharf. Einen Menschen einfach so wegdenken, eine merkwürdige, aber verlockende Vorstellung. Die Dame im Radio klang seriös, trotz der merklichen Anstrengung, männliche Fußballkompetenz auszustrahlen. Es musste etwas dran sein, an diesem Wegdenken. Und es müsste möglich sein, wenn auch nicht mehr Mesut Özil, so doch andere Spieler aus der Nationalelf wegzudenken, den Ersatztorwart Manuel Neuer etwa, folgerte Geruschke.
Der Wegdenkgedanke ließ ihn nicht mehr los. Genügt ein Mensch, um einen anderen Menschen wegzudenken, also mir nichts, dir nichts verschwinden zu lassen? Oder müssen mindestens zwei Menschen gemeinsam denken, um einen anderen mental zu eliminieren, eine Mehrheitsdemokratie des Wegdenkens also? Sind medial besonders präsente Menschen schwieriger wegzudenken als unscheinbare? Kann man durch Nachdenken Vordenker wegdenken? Der Gedanke an ein Zeitungsfeuilleton ohne Peter Sloterdijk ermunterte Geruschke, den Wegdenkgedanken weiterzuspinnen.
Wie viele Menschen braucht es, um Guido Westerwelle mittels Gedankenkraft verschwinden zu lassen? Und wie viele, die ganze FDP wegzudenken? Geruschke erwog, eine Online-Initiative zu starten. Arbeitstitel: Wir denken die Liberalen weg. Wenn doppelt so viele Menschen, wie FDP gewählt haben, die FDP im gleichen Moment wegdenken, dann dürfte diese gebündelte Mentalenergie ausreichen, diese Partei aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, dachte Geruschke. Oder haben die Liberalen in der Politik schon einen Status inne wie Mesut Özil im deutschen Fußball? Ist die FDP unwegdenkbar geworden?
Geruschke machte die Wegdenkprobe. Er fixierte einen bräunlichen Fleck an der Decke des Cafés, in dem er wie jeden Samstag frühstückte. Er legte die Stirn in Falten, kniff die Augen zusammen und starrte den Fleck an, als sei er ein Widersacher. Langsam veränderte sich das schmutzige Braun, zuerst in ein blasses Grün, dann in ein fades Gelb, bis schließlich der ganze Fleck weg war. Weggedacht von Geruschke. Es funktionierte also. Der Aktion "Westerwelle wegdenken" stand nichts mehr im Wege.
Nun hieß es, Massen zu mobilisieren, denkfähige und -willige Massen, wegdenkwillige, um genau zu sein. Geruschke klappte sein Laptop auf und begann zu tippen, zu chatten, zu twittern, zu bloggen und zu mailen. Im Nu war das Netz voller Aufrufe, die FDP in einem Flashmob-Thinkoff verschwinden zu lassen. Als Geruschke kurz von seinem Monitor aufsah, bemerkte er in der Ecke des Cafés einen Mann, der ihn skeptisch musterte. Sekunden später war Geruschke samt Laptop verschwunden, wie vom Marmorfußboden verschluckt. Niemand im Café konnte sich an ihn erinnern. Der Fleck an der Decke aber war wieder da. Geruschkes Schöpfer war die Wegdenkgeschichte zu kompliziert geworden. Also dachte ich Geruschke kurzerhand wieder weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein