Flüchtlingslager: Fast wie im Schtetl
Jüdische Flüchtlinge kamen nach dem Zweiten Weltkrieg zu tausenden in die Stadt und warteten in Lagern auf ihre Weiterreise. Der Film "Transit Berlin" (5. November, RBB, 22.35 Uhr) erzählt ihre Geschichte.
Juden suchen nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht im Land der Täter, in der Stadt, von der aus der Holocaust geplant und durchgeführt wurde? Die unwahrscheinlich anmutende Geschichte der drei Berliner Lager für jüdische "Displaced Persons" (DP) ist fast vergessen. Nichts erinnert heute in Schlachtensee, Wittenau und Tempelhof an die zigtausenden Menschen, die hier auf ihre Weiterreise warteten - nach Palästina, in die USA oder ein anderes Land, das bereit war, sie aufzunehmen. Jetzt hat der ehemalige RBB-Fernsehdirektor Gabriel Heim den jüdischen DP einen Dokumentarfilm gewidmet. In "Transit Berlin" kommen Überlebende des Holocaust zu Wort, für die das Nachkriegs-Berlin eine Zeit lang Ort der Hoffnung und des Neubeginns war.
Der Film beginnt mit dem Ende: Im Juli 1948 werden die letzten knapp 6.000 jüdischen DP mit Rosinenbombern ausgeflogen. Die Berlin-Blockade macht die Versorgung der Bevölkerung schwer genug, in der westdeutschen Besatzungszone können die Amerikaner ihre Schützlinge einfacher versorgen.
Ein Sprung drei Jahre zurück, Sommer 1945. Die zionistische Fluchthilfeorganisation Brichah bringt täglich per Lastwagen aus Stettin polnische Juden nach Berlin. Sie fliehen vor der wirtschaftlichen Not und dem auflebenden Antisemitismus in Osteuropa. Insgesamt schleust Brichah bis 1947 zehntausende Menschen durch Berlin. Wie viele genau, ist unklar: Nach Heims Recherchen sind es mehr als 100.000, die Historikerin Angelika Königseder von der Technischen Universität spricht von rund 32.000.
Zwei von ihnen sind Bella Katz, Partisanin aus Litauen, und Regina Karolinski, die als Zwangsarbeiterin überlebt hat. Karolinski wohnt zwei Jahre im Lager Wittenau. "Die Leute kamen aus verschiedenen Richtungen: vom Ghetto, vom Lager, aus Russland, versteckt", sagt sie im Film. "Die Bedingungen waren nicht die besten: Waschen musste man sich unter kaltem Wasser. Aber man hat angefangen, normal zu leben", ergänzt Katz.
Das allerdings dauert eine Weile. Die Amerikaner und Briten zögern, in ihren Zonen DP-Lager für Juden einzurichten. Damit, so befürchten sie, würden sie noch mehr Flüchtlinge anziehen. So werden die jüdischen DP zunächst von Brichah und der gerade neu gegründeten Berliner Jüdischen Gemeinde in provisorischen Durchgangslagern untergebracht, etwa in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. Die platzen bald aus allen Nähten, zumal die Westalliierten den Weitertransport der Juden nach West- und Süddeutschland nach Kräften unterbinden.
Die Franzosen reagieren als Erste: Am 1. Dezember 1945 wird am Eichborndamm 140-148, auf dem Gelände der ehemaligen Waffenfabrik Borsigwalde, ein DP-Lager für Juden mit Platz für 500 Menschen eingerichtet. Doch das reicht längst nicht. Am 12. Januar 1946 schließlich eröffnen die Amerikaner das "Düppel-Center" an der Potsdamer Chaussee in Schlachtensee. In elf zweistöckigen Holzbaracken ist Platz für rund 3.500 Personen. Im Juli 1946 kommt eine dritte Einrichtung dazu: das Mariendorf-Bialik-Center in der Eisenacherstraße in Tempelhof. Die drei Wohnblocks sind für 3.000 Menschen ausgelegt, bisweilen müssen dort aber mehr als 4.000 untergebracht werden. Auch in Schlachtensee herrscht oft drangvolle Enge: Im August 1946, als nach einem Pogrom in Polen die Fluchtwelle einen Höhepunkt erreicht, sind dort mehr als 5.000 Einwohner registriert.
Formal zuständig für die Verwaltung der Lager ist die Unrra, die United Nations Relief and Rehabilitation Administration. Doch die DP wollen sich selbst verwalten, ihr Leben endlich wieder in die eigenen Hände nehmen. Sie wählen Komitees für jedes Lager, die als Gemeindeverwaltung fungieren. Sie schaffen eine eigene Gerichtsbarkeit, eine jüdische DP-Polizei.
Lager werden zu Städten
Bald entwickelt sich das Lager Düppel - mit Hilfe der Alliierten und jüdischer Hilfsorganisationen wie des American Jewish Joint Distribution Committee - zu einer richtigen kleinen Stadt: Es gibt Schulen, Bibliotheken, ein Kino, Theater, ein Arbeitsamt, Sportclubs, eine Zeitung. Gesprochen wird Jiddisch, es gibt eine Synagoge, jüdische Parteien und zionistische Organisationen. In den DP-Lagern wird geheiratet, geboren, gefeiert, gelebt - ganz in der Tradition des osteuropäischen Judentums. "Es war fast wie im Schtetl", sagt Rachel Abramowitz über das Düppel-Center in Heims Film. Sie kommt dort im Juli 1946 an und heiratet später einen US-Militärrabiner.
Auch die anderen Zeitzeugen in Heims Film berichten übereinstimmend positiv von ihrer Zeit in den Berliner DP-Lagern. Etwa Micha Gleibermann, der den Krieg mit seiner Familie in Kasachstan überlebt hatte: "Die Leute waren optimistisch. Sie wussten nicht, was mit ihnen passieren würde, aber die Hoffnung war da." Oder Hella Stern, die als Kind im Tempelhofer Camp lebte und sich dort, wie sie sagt, sehr wohl fühlte. Sie habe nie wieder ein solches Gemeinschaftsgefühl erlebt, man habe zusammen gekocht, gegessen, geredet. "Auch wenn wir eingegrenzt hier im Lager, geschützt von Stacheldraht, gewohnt haben, war es eine sehr schöne Situation, unter Juden zu leben."
Kontakte mit Deutschen hatten die jüdischen DP kaum. Lediglich auf dem Schwarzmarkt - am Tiergarten, auf dem Alexanderplatz, vor dem Reichstag - sei man sich begegnet, erzählt Abraham Springer. Wie die Deutschen betrieben viele DP aus purer Not Tauschgeschäfte, vor allem mit Nahrung, Kleidung und Zigaretten. "Paketjuden" wurden sie von den Deutschen genannt.
Der Antisemitismus, der sich in solchen Bezeichnungen offenbarte, konnte den DP wenig anhaben. Für die meisten war Berlin Durchgangsstation auf dem Weg nach Palästina. "90 Prozent der überlebenden Juden wollten das Land verlassen", sagte Springer bei der Vorstellung des Films im Jüdischen Museum. Der 84-Jährige ist einer von wenigen hundert DP, die in Berlin blieben oder später zurückkamen.
"Transit Berlin", Dokumentation, 52 Minuten, von Gabriel Heim, 5. November, 22.35 Uhr, RRB
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