US-Jugendstrafrecht: Nur noch im Gefängnis sterben
Als sie verurteilt wurden, waren sie Teenager. Doch sie sollen bis zu ihrem Tod eingesperrt bleiben. Jetzt prüft der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Strafen.
WASHINGTON taz | Joe Sullivan war 13, als er eine 72-jährige Frau vergewaltigt haben soll. Terrance Graham war 16, als er bewaffnet in ein Geschäft einbrach und den Besitzer niederschlug. Beide gehören zu 111 verurteilten Jugendlichen in den USA, die dafür ihr Leben lang im Gefängnis büßen sollen. 77 Jugendliche sitzen allein in Florida ein. Von dort riefen Sullivan und Graham jetzt das Oberste Gericht an, um die Rechtmäßigkeit ihrer Urteile zu prüfen. Am Montag begann die Anhörung - und mit ihr eine landesweite Debatte.
"Es ist grausam, einem Kind mit 13 zu sagen, dass es nur noch im Gefängnis sterben kann", sagt Bryan Stevenson, Anwalt des heute 33-jährigen Sullivan. "Wir glauben, dass die Verfassung diese Art von Bestrafung verbietet." Der Jurist beruft sich auf den achten Zusatz der US-Verfassung, der "grausame Bestrafung" für illegal erklärt. In 42 Bundesstaaten ist es möglich, Minderjährige ein Leben lang wegzusperren - ohne Chance auf Bewährung. Dafür müssen sie keine Mörder sein.
Von Joe Sullivan, sagt sein Anwalt Stevenson, dass er geistig nicht zurechnungsfähig sei und außerdem in seinem Prozess schlecht vertreten wurde. Er sei "zu jung, zu arm und intellektuell zu minder bemittelt gewesen, um die Richter von seiner Unschuld zu überzeugen", erklärte sein Anwalt vor der Anhörung. Tatsächlich hatte der damalige Pflichtverteidiger keine Berufung eingelegt, obwohl Sullivans ältere Komplizen wesentlich glimpflicher davon gekommen waren. Als Stevenson dann den Fall unter die Lupe nahm, waren alle Beweise - inklusive der DNA-Tests - vernichtet.
Über Terrance Graham, sagt sein Anwalt Bryan Growdy dem Radiosender National Public Radio: "Terrance hat niemanden getötet, und doch ist sein Urteil genauso hart wie das gegen einen brutalen Mörder." Die Hinrichtung jugendlicher Straftäter haben die Obersten Richter 2005 abgeschafft - mit nur fünf zu vier Stimmen war die Entscheidung knapp. Zur Begründung hieß es damals, dass Menschen unter 18 unreif, verantwortungslos und anfälliger für Gruppendruck seien als Erwachsene.
Warum, fragen viele, wird mit eben dieser Begründung nicht auch die lebenslange Haftstrafe für Jugendliche abgeschafft? "Es kommt mir barbarisch vor, sie für immer wegzuschließen", sagte der pensionierte Berufungsrichter John Blue aus Florida der "New York Times". "Wir müssen ihnen doch auch etwas Hoffnung geben." Doch Verfechter der geltenden Rechtspraxis sehen das anders - wie etwa der Republikaner William Snyder, der dem Rechtsausschusses im Abgeordnetenhaus des Bundesstaates Florida vorsitzt. "Ein 15-Jähriger kann ein enormes Gefühl für Richtig und falsch haben", sagt Snyder. "Es gibt einen Punkt, an dem Jugendliche eine Grenze überschreiten und da müssen sie wie Erwachsene behandelt und als solche bestraft werden." An diesem Punkt sei vor allem Florida in den 90er Jahren gewesen, unterstreicht Floridas Justizminister Bill McCollum. Die Kriminalitätsrate bei Jugendlichen sei damals dramatisch angestiegen. Allein neun ausländische Touristen seien zwischen 1992 und 1993 innerhalb von elf Monaten getötet worden - von einem 14-Jährigen.
Seit Jahren protestieren Amnesty International und Human Rights Watch dagegen, Minderjährige vor Gericht als Erwachsene zu behandeln. Sie hoffen auf die neue Debatte. Stephen Breyer, einer der liberalen Richter am Obersten Gerichtshof der USA, bringt das Dilemma auf den Punkt: "Menschen sind verunsichert darüber, wieviel moralische Verantwortung sie Individuen einer bestimmten Altersgruppe zuschreiben können. Ist es angemessen, einen 10-Jährigen ohne Bewährung lebenslänglich zu verurteilen? Nein. Mit elf? Nein. Mit 17? Ja vielleicht".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Schuldenbremsen-Dogma bröckelt
Auch Merz braucht Geld
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“