Spanische Pokalsensation: Die Rache der Vorstadt
4:0 hat der kleine Drittligist Alcorcón im Hinspiel gegen Real Madrid gewonnen. Heute, im Rückspiel, schaut die halbe Welt zu, wie er alles dransetzt, mit nur drei Toren Unterschied zu verlieren.
MADRID taz | Seit zwei Wochen nun sind die Wörter verschwunden aus der Umkleidekabine der Sportgruppe Alcorcón. "Wir reden nicht mehr", sagt Juan Antonio Anquela, der Trainer des Fußballklubs aus der dritten spanischen Liga. "Wir schauen uns an und können bloß lachen." Im Rest des Landes reicht ein einziges Wort, und dasselbe Lachen, ungläubig, selig, verrückt, geht im Gesicht der Leute auf, ausgelöst von nur einem Wort: Alcorcón.
Der 4:0-Sieg dieser beliebigen Truppe von Fußballtagelöhnern vor 14 Tagen in der vierten Runde des spanischen Königspokals über die teuerste Elf der Welt, Real Madrid, erfüllte den ewigen Tagtraum des Amateurfußballers: einmal im Leben, einfach so, die Weltbesten bezwingen.
Träume wie diese jedoch sollen nicht mehr sein im spanischen Fußball, der sich in den Händen von ein paar Mauschlern und Kleingaunern um Verbandspräsident Ángel María Villar befindet. Sie haben vor ein paar Jahren das System mit Hin- und Rückspiel im Königspokal eingeführt, sodass die mächtigen Erstligisten immer die Chance haben, einen Ausrutscher zu korrigieren, die Träume der Kleinen zu verscheuchen. An das Rückspiel am heutigen Dienstag dachte Alcorcóns Präsident Esteban Márquez unmittelbar nach dem 4:0. "Ich weiß nicht mehr, ob es mir gut oder schlecht geht", sagte er. "Sie werden uns schrecklich verprügeln im Rückspiel."
Das 4:0 hat das unmögliche Topspiel erschaffen: Reals Bernabéu-Stadion wird zum Rückspiel gegen den Drittligisten mit 80.000 Zuschauern ausverkauft sein, "die magische Nacht!", kündigt Spaniens größtes Sportblatt Marca an. Selbst in den USA überträgt das Fernsehen live. Reals Flügelspieler Marcelo appelliert an den Geist Obamas: "Ja, wir können Alcorcón ausschalten!" Und in Alcorcón, der Trabantenstadt im Madrider Südwesten, sagt Trainer Anquela, er habe angesichts des Medieninteresses "doch keine Angst. Ich habe Panik!"
Seine Spieler nennen Anquela Anqueloti, weil es nach Carlos Ancelotti klingt, dem berühmten Trainer des FC Chelsea. Es sind die Scherze des Fußballproletariats. Wie seine Spieler lebt der kleine Anqueloti seit Jahren mehr von den Träumen als vom Gehalt im Niemandsland des Drittliga-Fußballs. 3.000 Euro im Monat erhält der Bestverdiener des Teams, Stürmer Borja Pérez. Nach dem 4:0 überreichte ihnen der Geschäftsführer des Einkaufszentrums "Drei Wasser" in Alcorcón eine Prämie von 6.000 Euro - für das gesamte Team. Die Geschäfte des Einkaufsparks hatten zusammengelegt.
Das 4:0 war auch die ultimative Rache der Vorstädte: 759 Einwohner hatte Alcorcón 1950, dann begannen Baulöwen wie Reals Präsident Florentino Pérez Vorstadthöllen hochzuziehen, heute leben in Alcorcón 175.000 Einwohner zwischen deprimierenden Wohntürmen und Lagerhallen, doch an jenem Abend vor 14 Tagen schlug die Vorstadt zurück, für alle Bausünden ein Tor und noch eines, vier Ohrfeigen im Gesicht von Florentino Pérez.
Die Sportgruppe Alcorcón, Sechster in ihrer Liga, musste unterdessen feststellen, dass Teams wie Conquense und Cacereño nicht so einfach zu bezwingen sind wie Real Madrid. Nach dem 4:0 reichte es nur zu zwei Unentschieden in der Dritten Liga, wie gewohnt vor gut 1.500 Zuschauern; und neuerdings 12 Fernsehsendern. Wieder und wieder griffen sie im Hinspiel an, "Alcorcón auf dem Flügel!" war der Ruf der Nacht. Kann es eine richtige Taktik geben, wenn das Ziel nun ist, 0:3 zu verlieren? "Auf gehts, Jungs!", werde er rufen, sagt der kleine Anqueloti, "aber der Wind wird die Wörter mitnehmen, und dann bleibt uns nur das Grün", die Farbe des Spielfelds, Farbe der Hoffnung, dass das Unmögliche noch einen Abend verweilen möge.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung