Direkte-Demokratie-Experte Tiefenbach: "Meist geht es um Banales"

Das Schweizer Minarett-Verbot ist ein spektakulärer Fall und kein Argument gegen Volksentscheide, sagt Paul Tiefenbach vom Verein "Mehr Demokratie".

In Deutschland waren alle Bürgerbegehren gegen den Bau von Moscheen erfolglos Bild: dpa

taz: Herr Tiefenbach, war dieses Jahr bislang ein gutes für die direkte Demokratie?

Paul Tiefenbach: In Bremen sind wir ganz zufrieden. Hier hat das neue Gesetz zur Reform der Volksgesetzgebung direkte Demokratie wesentlich erleichtert.

Dafür gab es viel Rückenwind von Grünen, FDP und CDU.

ist Ex-Grüner und Vertrauensperson des Bremer "Mehr Demokratie"-Volksbegehrens.

Die Stimmung hat sich insgesamt geändert. Am Ende hat selbst die Bremer CDU die Reform befürwortet, obwohl sie lange dagegen war. Man hat gesehen, welche Politisierungseffekte Volksbegehren haben können.

Ist der Schweizer Volksentscheid für das Minarett-Verbot da ein Rückschlag?

Ich empfinde das als Rückschlag, aber nicht als Einschnitt. Es ist bedauerlich, dass die Schweizer so abgestimmt haben. Es kommt aber gelegentlich vor, dass sich Volksentscheide gegen Minderheiten richten. Minderheiten haben aber in jeder Form der Demokratie Probleme.

Was kann man dagegen tun?

Man sollte Minderheitenrechte in die Verfassung aufnehmen. Verfassungsänderungen sollte es nicht wie üblich mit einer einfachen, sondern nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit geben.

Ist es nicht inkonsequent, mehr Volksgesetzgebung zu fordern - sie aber bei bestimmten Fragen einzudämmen?

Das kann man so sehen. Vor unserem historischen Hintergrund hat es in Deutschland aber Tradition, gewisse Dinge als unantastbar oder schwer veränderbar in die Verfassung zu schreiben. Das ist eine Einschränkung der Demokratie, sie schützt aber vor Fehlentscheidungen durch kurzfristige Kampagnen und Stimmungen in der Bevölkerung.

Also trauen Sie den Menschen bei der Gesetzgebung einiges zu, aber nicht alles?

Erfahrungen mit direkter Demokratie in der Schweiz oder in Kalifornien zeigen, dass die Bevölkerung in vielen Fragen kompetenter ist, als man vermutet. In Fragen von Minderheitenrechten gibt es aber leider eine Anfälligkeit für problematische und kurzsichtige Entscheidungen.

Beim Minarett-Verbot geht es doch nicht nur um Minderheitenrechte, sondern um die Religionsfreiheit.

Das würde ich nicht verbinden. Man hat in der Schweiz ja nicht beschlossen, Muslime auszuweisen, sie sollen bloß keine Minarette bauen. In Deutschland waren alle Bürgerbegehren gegen den Bau von Moscheen erfolglos.

Was folgern Sie daraus?

Dass die Schweizer Entscheidung ein Sonderfall und kein Argument gegen direkte Demokratie ist. Man sollte die Menschen über alles abstimmen lassen, außer über die so genannten Ewigkeitsklauseln der Verfassung.

In der Praxis geht es in Deutschland ja auch eher um Mehrheitlich-Lebensweltliches wie die Schulreform in Hamburg …

In Hamburg ging es bei Volksentscheiden in den letzten zehn Jahren immer um Dinge wie Bildungspolitik, Privatisierungen oder Wahlrecht. Die Schweiz ist ein spektakulärer Fall, meist geht es eher um Banales.

Die Schulreform war Wahlversprechen der Grünen. Jetzt, wo deutlich wird, was das konkret für den Einzelnen bedeutet, werden sie abgestraft.

Bei Wahlen kann man immer nur über ganze Programmpakete abstimmen. Mit Volksentscheiden kann man die aufschnüren, korrigieren oder ganz neue Ideen in das politische System einspeisen. Ich empfinde das als einen Gewinn an Demokratie.

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