Stanley Kubricks Napoleon-Projekt: Die Perfektion des Unvollendeten

Stanley Kubricks Napoleon-Projekt zählt zu den unvollendeten Meisterwerken der Filmgeschichte. Eine opulente Box dokumentiert die umfassenden Vorbereitungen Kubricks.

"The greatest movie never made" - so der Untertitel des im Taschen Verlag erschienenen Luxuswerks zu Kubricks "Napoleon"-Projekt. Bild: dpa

"Ich erwarte, den besten Film zu drehen, der je gemacht wurde", schrieb Stanley Kubrick im Januar 1971. Die unbescheidene Ankündigung notierte er in einer Projektbeschreibung, mit deren Hilfe der Regisseur Geld für seine monumentale Filmbiografie über Napoleon auftreiben wollte. Es war bereits sein dritter Versuch - und sein letzter. Wenig später musste er seinen Plan aufgeben: Sergei Bondarchuks "Waterloo" war spektakulär an den Kinokassen gescheitert, das Thema Napoleon für Hollywood auf Jahre hinaus verbrannt.

Als "The greatest movie never made" bezeichnet jetzt der Untertitel eines im Taschen Verlag erschienenen luxuriösen Folianten Kubricks "Napoleon"-Projekt. Das ist eine kühne Behauptung. Die Filmgeschichte ist voll mit unvollendeten Projekten renommierter Regisseure. Für seine Geschichte Mexikos von der Zeit vor der Conquista bis zur Revolution "!Que viva México!" belichtete Sergei Eisenstein Anfang der Dreißigerjahre dutzende Kilometer Film, bevor das Projekt an einer Vielzahl von Widrigkeiten scheiterte. Drei Jahrzehnte später drehte Henri-George Clouzot mit Romy Schneider monatelang Testaufnahmen für "Lenfer", ein Versuch des Routiniers, die Jungspunde der Nouvelle Vague mit einer revolutionären Bildsprache herauszufordern - doch Clouzot erlitt einen Herzinfarkt, als sein Hauptdarsteller während der Dreharbeiten abhaute.

Legendär ist ebenso Terry Gilliams abgebrochener Versuch zu Beginn der Nullerjahre dieses Jahrhunderts, "Don Quixote" zu verfilmen. Ein Grund: Hauptdarsteller Jean Rochefort durfte wegen eines Prostata-Infekts nicht reiten. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte sich bereits Orson Welles vergeblich an Cervantes Klassiker gemacht. Welles ist auch der unbestrittene Meister des unvollendeten Meisterwerks: In seiner Filmografie finden sich mehr abgebrochene Projekte und Fragmente als vollendete. Die Konkurrenz für Kubrick ist also groß. Was seinen "Napoleon" allerdings herausstechen lässt, ist die schiere Größe des Projekts und dessen minutiöse Vorbereitung. Zwar wurde kein Meter Film belichtet, dennoch lässt sich anhand der erhaltenen Dokumente ein recht umfassendes Bild der geplanten Produktion erstellen.

Der Taschen-Foliant entpuppt sich beim Aufschlagen als eine Art Schatztruhe. Im ausgehöhlten Inneren verbergen sich zehn kleinere Bücher und Hefte, darunter auch das komplette Drehbuch und natürlich ein Sammelband, in dem verschiedene Experten und Beteiligte über das Filmprojekt schreiben. Der Rest dokumentiert Recherche und Produktion mit der Gründlichkeit einer historisch-kritischen Ausgabe. Eines der Bücher enthält eine Auswahl der 15.000 Fotos von möglichen Drehorten, die in Frankreich, Italien, Rumänien, Jugoslawien und Belgien gemacht wurden; ein anderes zeigt hunderte der 17.000 Stiche, Zeichnungen und Gemälden aus der Zeit Napoleons, die Kubrick von Mitarbeitern in ganz Europa abfotografieren ließ; besonders aufschlussreich ist ein Buch mit Produktionsnotizen des Regisseurs, inklusive handschriftlichen Korrekturen und minutiösen Aufstellungen der Kosten.

Am letzten Punkt zeigt sich, dass Kubrick in seinem Perfektionismus keineswegs weltfremd war. Er wusste genau: Ein Film, der das ganze Leben Napoleons abbilden soll, einschließlich der wichtigsten Schlachten von Austerlitz bis Waterloo, hat nur eine Chance auf Verwirklichung, wenn die Kosten für Statisten, Kostüme und Drehorte so gering wie möglich gehalten werden. Er stand schon in Verhandlung mit der rumänischen und der jugoslawischen Armee, die 30.000 Soldaten bereitgestellt hätten für zwei beziehungsweise vier Dollar am Tag pro Mann. Statt echter Stoffkostüme für 40 Dollar pro Stück wollte er Papierkostüme für ein bis vier Dollar in Auftrag geben. Kubrick testete selbst mit einem Fotoapparat, ab welcher Entfernung man den Unterschied nicht mehr erkennt. Er plante, ein gerade für die Luft- und Raumfahrt entwickeltes Objektiv zu nutzen, dass so lichtstark ist, dass man Innenaufnahmen ohne aufwendige Beleuchtung drehen kann. Für die tagesaktuelle Abrechnung der Drehkosten sollte bei IBM eigens ein neues Buchhaltungssystem entwickelt werden.

Ein moderner IBM-Kartenleser kam bereits zum Einsatz, um die tausende von Karteikarten zu verwalten, die dreißig Harvard-Studenten für die Drehbuchrecherche angefertigt hatten. Mit ihnen war es unter anderem möglich, sofort herauszufinden, was an einem bestimmten Tag im Leben Napoleons seine große Liebe Josephine gerade gemacht hat - oder 50 andere Personen aus dem Umfeld des Korsen. Kubrick selbst hatte eine Bibliothek mit 300 Büchern über Napoleon angesammelt und schrieb dem Oxford-Historiker Felix Markham manchmal mehrere Briefe am Tag mit detaillierten Fragen: Wie wurden die Pferde während des Russlandfeldzugs beschlagen? Wer musste zur Zeit der Französischen Revolution Steuern zahlen? Wie begrüßte man sich formal, weniger formal und freundschaftlich? Für Kubrick waren diese Recherchen essenziell. Für ihn bot die Filmgeschichte nicht einen einzigen Historienfilm, dem es gelungen wäre, eine spannende Geschichte entlang der Fakten zu erzählen und zugleich den Alltag einer vergangenen Epoche in allen Details lebendig zu machen. Wäre ihm selbst das gelungen?

Das Drehbuch zu "Napoleon" legt den Schluss nahe, dass Kubrick sich etwas übernommen hat mit seinem Plan, das gesamte Leben des Feldherrn, Politikers, Gesetzgebers und nicht zuletzt auch Privatmanns Napoleon Bonaparte zu erzählen. Um die 51 ereignisreichen Lebensjahre seines Protagonisten in drei Stunden Filmlänge unterzubekommen, greift er immer wieder auf einen Erzähler zurück, der zunehmend nicht nur Fakten referiert, sondern auch analysiert. Das ist keine filmisch elegante Lösung. Wie viel allerdings vom Drehbuch im fertigen Film übrig geblieben wäre, darüber lassen sich nur Mutmaßungen anstellen.

Darin aber liegt gerade der Reiz der unvollendeten Meisterwerke: Sie eröffnen Räume für Gedankenspiele, die nicht durch die Realität eines fertigen Films eingeengt werden. Jeder kann die Fragmente selbst zum für sich besten Film aller Zeiten vervollständigen. Perfektion gibt es immer nur in Unvollendung - was schon die Frühromantiker zu Napoleons Zeiten wussten, die das Fragment zur eigenen literarischen Gattung erhoben. Daher ist es das Schlimmste, wenn ein unvollendetes Meisterwerk, etwa Eisensteins "!Que viva México!", doch noch fertiggestellt wird - die Realität kann nie an die Legende heranreichen. Kubricks Produktionsvorbereitungen waren übrigens nicht ganz vergebens: Die lichtstarken Objektive und die Recherchen über das Alltagsleben im späten 18. Jahrhundert fanden ihre Verwendung wenige Jahre später bei den Dreharbeiten zu "Barry Lyndon". Für viele Kritiker ist es Kubricks Meisterwerk.

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