Neuköllner Schulprojekt nimmt Formen an: Das Experiment Campus Rütli
Seit dem berühmten Hilferuf der Lehrer wird viel Geld in das Pilotprojekt Campus Rütli gepumpt. Ziel ist eine umfassende Bildungseinrichtung für die Kinder im armutsgeplagten Nordneukölln. Jetzt gibt es erste Erfolge.
"Wir haben jetzt sogar diese coolen Smartboards", sagt Salah El-Mohamed stolz und zeigt auf die elektronische weiße Tafel, die die alte Kreidetafel ersetzt hat. Salah, kurzes schwarzes Haar und flaumiger Bartansatz, steht neben drei Mitschülern an einem der rechteckigen weißen Tische im Chemieraum. In der einen Hand ein Reagenzglas, in der anderen einen glühenden Holzspan, erklärt der 15-jährige flüssig die Glimmspanprobe: "Der Beweis von Sauerstoff ist einfach: Sobald ich den Span ins Reagenzglas stecke, fängt der an zu brennen."
Salah besucht die neunte Klasse der ersten Gemeinschaftsschule in Neukölln: Campus Rütli. Die 2006 bundesweit bekannt gewordene ehemalige Hauptschule hat sich mit der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule und der Franz-Schubert-Grundschule zusammengeschlossen. Seit dem Schuljahr 2008/09 werden die Schüler zunächst der 7. Klassen gemeinsam unterrichtet.
Rückblick: 2006 hatten Lehrer der Rütli-Schule in einem Brandbrief um Hilfe gerufen: Sie könnten aufgrund der unerträglichen sozialen Umstände an ihrer Schule nicht weiter unterrichten. Seither steht der Name Rütli für Bildungsversagen. Eine Forderung aus dem Lehrerbrief lautete, die Hauptschule zugunsten einer neuen Schulform mit veränderter Zusammensetzung der Schülerschaft aufzulösen. Die Gemeinschaftsschule soll dieser Forderung nachkommen.
Seit damals hat sich einiges an der Schule verändert. Es gibt ein ganztägiges Unterrichts- und Freizeitangebot, die Schulgebäude wurden saniert, Lehrerzimmer umgebaut. Der Gymnastiksaal wurde für 500.000 Euro in eine Mensa umgewandelt, in der seit Februar warm gegessen werden kann. Der Chemieunterricht findet in einem der fünf renovierten naturwissenschaftlichen Räume statt, die Anfang November in den Lehrbetrieb aufgenommen wurden.
"Mir macht der Unterricht hier jetzt mehr Spaß", sagt Salah, der seinem Tischnachbarn zuvor etwas auf Arabisch erklärt hat. Er plant seinen Realschulabschluss an der Rütlischule zu machen.
Vor zwei Jahren initiierten die Stiftung "Zukunft Berlin" und das Neuköllner Bezirksamt das Konzept Campus Rütli. Auf 48.000 Quadratmetern soll eine Bildungslandschaft entstehen, in der Kinder aus dem von Armut und Arbeitslosigkeit belasteten Neuköllner Norden von der Geburt bis möglichst zum Abitur gefördert werden sollen. Unterstützt wird das Projekt vom Quartiersmanagement Reuterkiez. Die Gemeinschaftsschule bildet den Kern des Campus. Klaus Lehnert, ehemaliger Direktor des Neuköllner Albert-Einstein-Gymnasiums, koordiniert das Projekt: "Wir müssen, um Schüler richtig zu fördern, auch neue Konzepte ausprobieren."
Zum Beispiel mit Musik: Lautes Trommeln schallt mittags durch das Treppenhaus des 100 Jahre alten Schulgebäudes. Im vierten Stock befindet sich der Musikraum, in dem die Trommel-AG probt. Der abbröckelnde Putz an der Decke des Treppenhauses ist unübersehbar. "In der obersten Etage wurde noch nicht saniert", erklärt Schulleiterin Cordula Heckmann. 16 SchülerInnen sitzen im Kreis, vor ihnen stehen unterschiedlich große Trommeln. Die einzigen drei Jungs der Gruppe erzeugen die tiefen Klänge auf den großen Trommeln. Jede einzelne wird von einem roten Tuch bedeckt, das ein störendes Nachschwingen dämpfen soll. Der hässliche graugrüne Teppichboden und die dürftige Einrichtung des Raumes scheinen niemanden zu stören. "Die Musikbetonung ist eine wichtige Komponente an unserer Schule. Wir bieten deshalb 14 bis 20 Extra-Stunden im Monat neben dem üblichen Musikunterricht an", sagt Heckmann.
Seit einem Jahr treffen sich die Trommler im "Mittagsband". So wird das Programm zwischen 11.30 und 13.30 Uhr genannt. Nach dem Mittagessen müssen alle Schüler einen Pflichtkurs besuchen. Ob das Musik oder Bauchtanz ist, die Erdkunde-AG "Unsere Welt" oder ein Türkisch-oder Arabischkurs, bleibt jedem selbst überlassen. Auf dieser Weise erworbene Sprachkenntnisse werden mit einem Zertifikat für die zweite Fremdsprache belohnt, die für den Übergang in die Oberstufe nach dem Mittleren Schulabschluss ein Plus ist.
Auch die Eltern werden in die Arbeit der neuen Gemeinschaftsschule einbezogen. Für sie soll 2012 auf dem Gelände des Campus ein Elternzentrum gebaut werden. Bis dahin treffen sie sich in der eigens für sie renovierten früheren Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss. Hier können sie kochen und zusammen essen, nebenan befindet sich ein Beratungsraum und die ebenfalls neu eingerichtete Schülerbibliothek, die von den Eltern am besten gleich mitbenutzt werden soll. Familien und Senioren aus dem Kiez steht der Elterntreffpunkt auch offen.
Ahmad Al-Sadi ist interkultureller Moderator an der Schule und vermittelt insbesondere zwischen Eltern und Schülern, aber auch zwischen diesen und der Schulleitung. "Wir sind für die Schüler da und sitzen manchmal drei Stunden mit einem Kind zusammen, wenn Probleme auftauchen", sagt er. Jede Gelegenheit werde genutzt, um das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken und ihren Horizont zu erweitern. Al-Sadi: "Wir arbeiten hart mit ihnen." Am neuen Rütli werde gelehrt, respektvoll miteinander umzugehen, sich als Gemeinschaft zu verstehen. Ahmed Sözen von der Elterninitiative Reuterkiez wundert sich daher, dass manche Bürger zu ihnen kämen, um sich über das viele in den Campus gepumpte Geld zu beschweren.
Finanziert wird das Pilotprojekt Campus Rütli aus verschiedenen Quellen. Geld kommt unter anderem vom Senat, aus den Töpfen für das Modellprojekt Gemeinschaftsschule und die Schulstrukturreform. Auch der Bezirk und verschiedene private Stiftungen finanzieren mit. Die Freudenberg-Stiftung etwa zahlt allein 1,5 Millionen Euro. Insgesamt schätzt Wolfgang Schimmang (SPD), Bildungsstadtrat von Neukölln, die Kosten des Gesamtprojekts auf 24 Millionen Euro. 730.000 Euro hat allein der Umbau der naturwissenschaftlichen Räume gekostet. Im Frühjahr 2010 soll mit dem Bau der Sporthalle, die dem gesamten Kiez zur Verfügung stehen soll, begonnen werden. 4,9 Millionen Euro sind dafür eingeplant. Die langfristige Investition Campus Rütli wird voraussichtlich im Jahr 2016 beendet sein. Sie soll über die nächste Legislaturperiode hinausgehen, so Schimmang. Fest bewilligt seien die Gelder zumindest bis 2011 - also soweit der nächste Doppelhaushalt des Landes reicht.
Cordula Heckmann, bis August 2009 Direktorin der Heinrich-Heine-Realschule, ist seitdem Leiterin des Gemeinschaftsschulprojekts. Sie empfinde es als Ehre, an dem Projekt mitzuarbeiten, sagt Heckmann: "Schule kann gelingen, wenn alle zusammenarbeiten." Die zierliche und elegant gekleidete Direktorin ist sich sicher: "Das Image der Rütli-Schule wird sich verändern, denn die Schüler und Lehrer fühlen sich hier wohl."
Die Veränderung hat wohl schon begonnen: Während 2006 noch 27 Prozent der Neuntklässler die Rütli-Hauptschule ohne Abschluss verließen, waren es bei den Abgängern in diesem Sommer nur noch 7 Prozent. 80 Prozent der Zehntklässler der Heinrich-Heine-Schule haben in diesem Jahr den Mittleren Schulabschluss geschafft. Jeder Zweite von ihnen besucht nun das Albert-Schweitzer-Gymnasium - den Kooperationspartner von Campus Rütli.
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