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Kulturkampf in der TürkeiBeethoven am Bosporus

Die traditionell europäisch geprägten Eliten in der Türkei verlieren an Einfluss. Doch sie wehren sich gegen die religiös-nationalistische Kulturoffensive der AKP-Regierung.

Eine türkische Kindertanztruppe führt einen traditionellen Brauttanz auf. Bild: dpa/archiv

ISTANBUL taz | Am Ende lässt es Sascha Goetzel noch mal richtig krachen. Weil der Applaus von vielen hier im Istanbuler Lütfi Kirdar International Convention and Exhibition Centre kein Ende nehmen will, wechselt der österreichische Dirigent mit der ersten Geigerin ein paar Sätze, hebt den Taktstock und lässt die letzten Takte von Beethovens Neunter als Zugabe noch einmal spielen - das Publikum dankt es ihm erneut mit fast frenetischem Beifall. Nein, mit Pathos haben Türken kein Problem.

Das Konzert des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra (Bipo) Mitte Januar ist ein Ausrufezeichen. Zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung der Istanbuler Feierlichkeiten zur Auszeichnung "Kulturhauptstadt Europas" betont das Bipo mit Beethovens 9. Symphonie, der Europahymne, die Ausrichtung nicht nur dieses Orchesters nach Europa - auch das Publikum, die säkular-westlich geprägte Kulturelite der Metropole am Bosporus, ist ganz im Sinne des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk mitten in Europa zu Hause.

Kopftücher sucht man unter den vielen Hundert Zuhörerinnen des Konzerts vergeblich. Wäre nicht das Verkehrschaos vor der Tür und die vielen Wangenküsschen der Männer im Saal, das Konzert könnte ebenso gut in Stockholm, Wien oder London stattfinden. Mag Europa der Türkei trotz der offiziellen EU-Beitrittsverhandlungen mittlerweile die kalte Schulter zeigen - zumindest die Istanbuler Wirtschafts- und Kulturszene orientiert sich weiterhin klar nach Westen.

Ahmet Kocabiyik ist dafür ein gutes Beispiel. Aus den mächtigen Boxen seines Büros am Bosporus klingt ebenfalls Beethovens Neunte, als der Konzernchef mit dem Brilli im linken Ohrläppchen zum Interview bittet. Der höfliche Industrielle ist der Mäzen des Bipo, mehr noch: Der kunstsinnige Manager der Borusan-Holding hält sich das Orchester nun schon seit Jahren als eine Art Spielzeug der Sonderklasse. Bis zu zehn Millionen Dollar gibt Kocabiyik für die kulturellen Aktivitäten seines, flapsig gesprochen, riesigen Gemischtwarenladens aus.

Kocabiyiks Holding gehört zu den großen Familienunternehmen der Türkei: Jahresumsatz: drei Milliarden US-Dollar. Das Geld verdient man vor allem mit Röhren. Das Herz des Konzernchefs aber gehört der Kultur, weshalb er etwa zwei wunderschöne Altbauten an der Istiklal-Straße, der zentralen Einkaufsmeile der türkischen Metropole, zu öffentlichen Kultur- und Ausstellungszentren hat ausbauen lassen. Versteht er dieses kulturelle Engagement seines Konzerns auch als eine Art, um die europäische Tradition der Türkei zu betonten? "Ja", meint Kocabiyik mit einem Lächeln, während aus den Boxen "Freudig, wie ein Held zum Siegen" dröhnt, "der Dialog ist wichtig. Und die beste Sprache ist die Musik, denn die ist universell verständlich." Und dann, etwas vorsichtiger: "Wir teilen da ähnliche Werte."

Das Bipo, das kürzlich erstmals eine CD mit Werken von Ottorino Respighi, Florent Schmitt und Paul Hindemith für den internationalen Markt veröffentlicht hat, will nach Europa. Es strebt in die erste Liga der europäischen Orchester - und wenn man bedenkt, wie abenteuerlich die Bedingungen für diese lange Reise sind, dann zollt einem diese Anstrengung schon Respekt ab. So mussten die Musiker in einer Halle unter dem Dach einer Istanbuler BMW-Vertretung für die CD-Aufnahme proben, während wenige Meter unter ihnen Kfz-Mechaniker Luxuslimousinen reparierten. Kocabiyiks Holding importiert die bayerischen Edelkarossen in die Türkei, Kultur und Geschäft sind in diesem Konzern eng verwoben.

Kocabiyiks kulturelles Engagement ist nicht untypisch. Das private Mäzenatentum hat in der Türkei durchaus Tradition, zumindest seit Atatürks Zeiten, als sich das Land mit brachialer Kraft nach Europa aufmachte. Heute haben sich die großen Unternehmen der Türkei den Markt des Kultursponsorings mehr oder weniger aufgeteilt: Während die klassische Musik eine Domäne der Borusan-Holding ist, fördert die Akbank in erster Linie den Jazz. Die Eczacibasi Holding, die vor allem mit Arzneimitteln, Baukeramik und Körperpflegemitteln Geschäfte macht, hat sich auf die Förderung von Malerei spezialisiert. Die Isbank, die größte Privatbank der Türkei, unterstützt unter anderem Kulturkonferenzen.

Bezeichnend ist, dass es anfangs der Initiative der nur zivilgesellschaftlichen Istanbuler Kultur- und Kunststiftung bedurfte, damit die europäisch-asiatische Metropole überhaupt den Titel "Kulturhauptstadt Europas" erringen konnte. Die Stadt und der Staat hatten sich da lange Zeit nicht mit Ruhm bekleckert. Nun aber wird schon geklotzt: Mit rund 270 Millionen Euro wird im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs das kulturelle Leben Istanbuls gefördert - die EU steuert so gut wie nichts bei, weil die Türkei kein Mitglied dieser Union ist.

Und hier wird die Sache hoch politisch. Denn zunächst Istanbul, dann die ganze Türkei wird seit Jahren von der gemäßigt islamischen Regierungspartei AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan regiert. Wohl deshalb reagiert man in der Kulturhauptstadt-Agentur fast schon pampig auf die Frage, ob man beim offiziellen Programm vielleicht Rücksicht genommen habe auf muslimische Empfindlichkeiten. Stichwort: der Skandal um die Idomeneo-Aufführung an der Deutschen Oper Berlin vor vier Jahren.

Natürlich, heißt es bei der Agentur leicht pikiert, habe man auf solche Sensibilitäten nicht geachtet. Es passt, dass die "2010 Agency" des Istanbuler Tourismusbüros in einem Stadtpalais aus der Gründerzeit untergebracht ist, das in so etwas wie Neorokoko-Pracht erstrahlt. Hier, unter den Bildern leicht gekleideter Damen an der Decke, wartete einst eine Kurtisane des Kalifen auf dessen Besuch. Die europäische Orientierung der Türkei war in gewissen Dingen eben immer schon vorhanden.

Hat aber der Wahlsieg von Erdogan und seiner islamischen Partei AKP vor sieben Jahren die kulturelle Atmosphäre verändert? Wurde in Istanbul und Ankara die eher europäisch geprägte Hochkultur der türkischen Elite à la Beethoven und Chagall zurückgedrängt zugunsten von Folklore und öffentlicher Koranrezitationen? Und sind Akzentverschiebungen in diese Richtung bei der AKP-Kulturpolitik zu beachten, parallel zu der außenpolitischen Neuorientierung der Türkei, die sich sanft, aber zunehmend wieder von Europa ab- und den asiatischen Nachbarn im Osten, Norden und Süden zuwendet, sodass manche sogar schon von einer "neoosmanischen Außenpolitik" reden, wie Jürgen Gottschlich es jüngst in dieser Zeitung tat?

Der Theaterautor und Publizist Aydin Engin warnt, man solle nicht übertreiben. Doch auch er sagt: "Allmählich hat die AKP-Regierung die Achse etwas verschoben." Man könne in der Kulturpolitik durchaus "von einem Kurswechsel sprechen". Sichtbar werde das etwa an der Förderung religiöser Musik, osmanischer "Hofmusik" und tanzender Derwische, deren Aufführungen von manchen schon als "nationales Ballett" angehimmelt würden.

Ein Zeichen für diese Veränderung, so Engin, sei auch, dass im staatlichen Radiosender TRT immer weniger klassische Musik gesendet werde - und die auch noch in schlechterer Qualität als früher. Ein Problem sei, dass die AKP kaum über Kulturpolitiker von nationaler Bedeutung verfüge, was auch an der zunächst fehlenden staatlichen Unterstützung bei der Bewerbung um den Titel "Kulturhauptstadt Europas" zu beobachten war, meint Engin. Der 68-Jährige, verheiratet mit der bekannten Schriftstellerin Oya Baydar, gehört zu den linksliberalen, säkular und europäisch geprägten Intellektuellen des Landes. Nach dem Militärputsch verbrachte er zwölf Jahre im deutschen Exil. In Frankfurt am Main arbeitete er als Taxifahrer und kann lustige Geschichten über seinen damaligen Kollegen Joschka (Fischer) erzählen.

Aber wendet sich der türkische Staat tatsächlich auch in der Kulturpolitik von seiner europäischen Tradition ab, die er seit Atatürk so gepflegt hatte? Bei der feierlichen Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres traf sich vor zwei Wochen die politische und künstlerische Elite des Landes in einem Veranstaltungszentrum am Bosporus. Auf der Bühne wurde neben vielen staatstragenden Reden etwa von Erdogan moderner Tanz und sanfte Popmusik geboten. Auch ein paar Volkssänger, eine anatolische Folkloregruppe und - unvermeidbar! - tanzende Derwische traten auf.

Auffällig war schon, dass die Gäste des großen Ereignisses gleich am Anfang von einem Frauenorchester empfangen wurden, das alte türkisch-osmanische Musik spielte und sang. Ein kleines klassisches Orchester war dagegen bei dem Empfang in eine Ecke gequetscht worden - und musste dort tapfer gegen das geringe Interesse der Anwesenden anspielen. Auf der Bühne ertönte zum Abschluss der über zweistündigen Show noch einmal Beethovens Neunte, gesungen von einem Chor von Kindern, die blaue Europafähnchen schwenkten. Das, immerhin, war ein klares Bekenntnis zu Europa. Zumindest der nächsten Generation.

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16 Kommentare

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  • CA
    Christian Alexander Tietgen

    Die Türkei in die EU!

  • S
    Skadorasch

    Prima!

    Europa hat die "Hochkultur" und die "Anderen" bloß Folklore. Fertig ist das dualistische Weltbild.

  • W
    Wumme

    Ist schon klar, in der Türkei schwenken sie EU Fähnchen und in Deutschland werden Türkische Fahnen geschwenkt und das noch in der dritten Generation.

     

    Neee.. lass mal Kalle, wir sollten mal die Kirche in Dorf und die Moschee in Istanbul lassen.

  • L
    Lulu

    @ Florian

    Danke für die Musiktipps. Hab die Sachen eben mal bei Youtube reingemacht und gefällt mir gut ;)

     

    Also, wenn EU was mit Fähnchenschwenken zu tun hat, bin ich garantiert kein Europäer. Angesichts des Lissabonvertrages sollten die Türken sich sowieso glücklich schätzen nicht zur EU zu gehören.

  • F
    Florian

    Die Diskussion um Beethoven versus tanzende Derwische uebersieht gaenzlich die ueberaus vielseitigen aktuellen musikalischen Entwicklungen in der Tuerkei. Elektrosufis ala Mercan Dede, fantastischer Gipsy-Jazz von Husnus Senlendirici oder die sagenhaften Folkinterpretationen von Kardes Tuerkueler, dies alles sind Besispiele der kraftvollen Verbindung tuerkischer Traditionen mit modernen westlichen Musikstilen oder Instrumenten. Ich moechte daher diese ueberaus hoerenswerte Verschmelzung als geradezu wegweisend fuer die weitere sehr hoffnungsvolle Entwicklung der tuerkischen Gesellschaft bezeichen und freue mich auf weitere Hoehepunkte der Festivitaeten in Istanbul.

  • J
    Jason

    Ein typischer Türkeifeindlicher billiger Klischeehafter artikel den man von der TAZ und insgesamt von der deutschen Medienlandschaft gewohnt ist, wenn das Thema Türkei ist.

     

    Hetze, hetzerischer.....Deutsche Medien über die Türkei....

  • SB
    Stefan Bronski

    "Chor von Kindern, die blaue Europafähnchen schwenkten. Das, immerhin, war ein klares Bekenntnis zu Europa. Zumindest der nächsten Generation."

     

    Ein klares Bekenntnis zu Europa, weil man Fähnchen schwenkt? Ich kann mir kaum das Lachen verkneifen, unter Europa versteht man in der Türkei die prall gefüllten Fördertöpfe mit den vielen Euros.

     

    Sorry, aber die Türkei hat in der EU nichts zu suchen, es ei denn aus der EU wird eine reine Wirtschaftsunion , aber dann könnten wir auch China oder Brasilien aufnehmen, dort hört man auch gerne Beethoven und wenn es sein muss, wird man auch EU Fähnchen schwenken.

  • D
    delidervis

    Sie zitieren:

     

    "Der Theaterautor und Publizist Aydin Engin warnt, man solle nicht übertreiben. Doch auch er sagt: "Allmählich hat die AKP-Regierung die Achse etwas verschoben." Man könne in der Kulturpolitik durchaus "von einem Kurswechsel sprechen". Sichtbar werde das etwa an der Förderung religiöser Musik, osmanischer "Hofmusik" und tanzender Derwische, deren Aufführungen von manchen schon als "nationales Ballett" angehimmelt würden."

     

    Die Rezeption westlicher Klassik in der Türkei kennt zwei markante Punkte: zum einen, als die mehterhane 1826 von Sultan abgeschafft und Giuseppe Donizetti als Kapellmeister verpflichtet wurde, um westliche Klangkörper zu etablieren. Zum anderen im Zuge von Atatürks Kulturpolitik. Beides bedeutete einen abrupten Bruch mit jahrhundertealten musikalischen Strukturen. Dass derartige Konzepte weder auf Dauer sind noch wirklich funktionieren, braucht nicht diskutert zu werden.

     

    In den letzten zehn Jahren ist eine Renaissance der klassisch-türkischen Musik zu beobachten, nicht zuletzt, weil linientreue Kemalisten der alten Garde so langsam aber sicher das Zeitliche gesegnet haben und somit die eigene Musikkultur aus ihrem Nischendasein unproblematisch heraustreten kann. Dazu gehört eben auch eine religiöse Musik. Und Derwische. Bei Aufführung europäischer Musik der frühen Neuzeit wittert hierzulande schließlich auch niemand ein zartes Wiederaufkeimen der Inquisition. Auch Bach-Kantaten habe ich noch nicht mit evangelikal-christlichem Fundamentalismus in Verbndung gebracht gesehen. Sie merken also selbst, wie absurd diese Argumentation von Herrn Engin ist, nicht wahr?

     

    Man kann gegen die AKP sein und trotzdem das musikalische Erbe der Türkei schätzen. Differenziert man hier nicht, köchelt die Suppe der ewig gleichen Pauschalurteile munter weiter vor sich hin. Nicht jeder, der gerne Türk Sanat und die osmanische Hofmusik hört, ist ein verkappter Islamist, der Verhältnisse Marke Teheran wünscht.

  • BS
    Biodeutscher Sozialromantiker

    @ anke:

     

    Sie fragen:

     

    "Warum seiner Ansicht nach als Auftakt zum Festjahr, in dem Istanbul "Kulturhauptsadt Europas" sein soll, ausschließlich Musik aus Österreich, Frankreich oder Deutschland gespielt werden muss, vergaß Philipp Gessler leider zu erwähnen. Es hätte mich interessiert."

     

    Ein kleiner Tipp von mir: Vielleicht liegt es daran, dass Österreich, Frankreich oder Deutschland zu Europa gehören und die Türkei nicht?

  • LS
    Linke Socke

    Die Kemalistische Elite ist nicht so westlich wie gerne dargestellt wird. Seit Jahrzehnten hat diese Minderheit der Mehrheitsgesellschaft ihre Gedanken mit Militärischer Macht auferlegt jetzt wo die AKP den Menschen den Volkswillen entsprechend Freiheiten umsetzen will, wehren sich die Kemalisten nur um ihre eigene Macht weiter zu behalten und da kämpfen sie glücklicherweise auf verlorenem Posten. Wenn die Kemalisten ach so europäisch gewesen wären, so glaubt mir, wäre die Türkei bereits mitglied der Europäischen Staatengemeinschaft, denn sie haben die letzten 80 Jahre in der Politik geprägt.

  • IR
    Ibrahim Ruc

    Ein wirklich sehr schlechter Artikel. Was schon am Anfang als "religiös-nationalistisch" bezeichnet wird, ist die wahre Kultur der Türkei. Lobeshymnen zu singen auf Atatürks "Zwangsmodernisierung" und den damit verbundenen "Kultur-Import" ist wahrlich unter dem Nivaeu der taz-Leser. Die sog. "Eliten" (also die Kemalisten die sich als wahren Eigentümer des Landes sehen) sind diejenigen, die sich vom Westen abwenden, den Westen verteufeln und in ihm einen Feind sehen. Diese sog. "Eliten" mögen zwar vom Lebensstil her modern bzw. "westlich" sein. Vom politischem Denken jedoch, sind sie im Jahre 1938 hängengeblieben. Diese "Eliten" sind verantwortlich für das Demokratiedefizit der Türkei. Denn diese Eliten denken "Wenns um das Vaterland geht, ist alles andere belanglos". Wir haben 1960, 1971, 1980 und 1997 gesehen, dass Menschenrechte und Demokratie für diese Eliten belanglos sind. Mit Halbwahrheiten macht man keinen guten Journalismus.

  • D
    delidervis

    Sie zitieren:

     

    "Der Theaterautor und Publizist Aydin Engin warnt, man solle nicht übertreiben. Doch auch er sagt: "Allmählich hat die AKP-Regierung die Achse etwas verschoben." Man könne in der Kulturpolitik durchaus "von einem Kurswechsel sprechen". Sichtbar werde das etwa an der Förderung religiöser Musik, osmanischer "Hofmusik" und tanzender Derwische, deren Aufführungen von manchen schon als "nationales Ballett" angehimmelt würden."

     

    Die Rezeption westlicher Klassik in der Türkei kennt zwei markante Punkte: zum einen, als die mehterhane 1826 von Sultan abgeschafft und Giuseppe Donizetti als Kapellmeister verpflichtet wurde, um westliche Klangkörper zu etablieren. Zum anderen im Zuge von Atatürks Kulturpolitik. Beides bedeutete einen abrupten Bruch mit jahrhundertealten musikalischen Strukturen. Dass derartige Konzepte weder auf Dauer sind noch wirklich funktionieren, braucht nicht diskutert zu werden.

     

    In den letzten zehn Jahren ist eine Renaissance der klassisch-türkischen Musik zu beobachten, nicht zuletzt, weil linientreue Kemalisten der alten Garde so langsam aber sicher das Zeitliche gesegnet haben und somit die eigene Musikkultur aus ihrem Nischendasein unproblematisch heraustreten kann. Dazu gehört eben auch eine religiöse Musik. Und Derwische. Bei Aufführung europäischer Musik der frühen Neuzeit wittert hierzulande schließlich auch niemand ein zartes Wiederaufkeimen der Inquisition. Auch Bach-Kantaten habe ich noch nicht mit evangelikal-christlichem Fundamentalismus in Verbndung gebracht gesehen. Sie merken also selbst, wie absurd diese Argumentation von Herrn Engin ist, nicht wahr?

     

    Man kann gegen die AKP sein und trotzdem das musikalische Erbe der Türkei schätzen. Differenziert man hier nicht, köchelt die Suppe der ewig gleichen Pauschalurteile munter weiter vor sich hin. Nicht jeder, der gerne Türk Sanat und die osmanische Hofmusik hört, ist ein verkappter Islamist, der Verhältnisse Marke Teheran wünscht.

  • H
    Hunks

    Beethoven hört man auch sehr gerne in Südkorea, Japan oder China. Nun sind weder die Türkei, China oder Japan Europa, dazu gehört mehr als Beethoven zu mögen.

  • A
    anke

    Warum seiner Ansicht nach als Auftakt zum Festjahr, in dem Istanbul "Kulturhauptsadt Europas" sein soll, ausschließlich Musik aus Österreich, Frankreich oder Deutschland gespielt werden muss, vergaß Philipp Gessler leider zu erwähnen. Es hätte mich interessiert.

     

    Mit ihrer Initiative will die EU nämlich laut Lexikon nicht nur dazu beitragen, "Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes" aufzuzeigen, sie will auch "den Reichtum [und] die Vielfalt [...] in Europa" herausstellen. Schon möglich, dass es "ein besseres Verständnis der Bürger Europas füreinander" sehr befördert, wenn nur Gewohntes und Beliebtes präsentiert wird. Dass die auserwählten Städte sich allerdings nicht nur einen ideellen Gewinn für Europa, sondern (nach entsprechender Propaganda von Seiten der Veranstalter) auch handfeste eigene Vorteile wirtschaftlicher Art vom Tragen des Kulturhauptstadt-Titels versprechen, darf eigentlich niemanden überraschen. Eine "erhöhte Aufmerksamkeit und zahlreiche Besucher" allerdings rekrutiert man noch allemal eher mit tanzenden Derwischen und sanftem Pop als mit Beethoven und Chagall, schon weil die Basis jeder (Gesellschafts-)Pyramide entschieden breiter ist als ihre Spitze. Das ist in Frankreich so, in Österreich und in Deutschland auch. Überhaupt ist es eine auffällige Gemeinsamkeit aller EU-Mitgliedsstaaten, dass ihre Eliten eine eigene, nur sie verbindende Kultur konsumieren. Und so verschieden, dass es am Bosporus unbedingt anders sein müsste, sind die Türken nun auch wieder nicht. Zumindest die nicht, die sich zu den oberen Zehntausend gezählt wissen wollen.

  • O
    Oberhart

    Wo die Türkei sich kulturell hinbewegt, soll sie mal selbst entscheiden. Ist ja nicht so, dass man sich entscheiden müßte zwischen Derwischtänzen und klassischer Musik. Das kann man beides gut oder schlecht finden und die Entscheidung soll das Publikum mal schön selbst treffen.

     

    Wünschenswert wäre allerdings ganz klar eine Hinwendung zu Menschenrechten und Toleranz - die dann ganz automatisch auch ein Abwenden von islamischen Kräften bedeutet. Wer die Menschenrechte achtet oder im Idealfall gar fördert, der darf von mir aus Derwischtänze und orientalische Konzerte besuchen, bis seine Ohren bluten.

     

    Und genau das ist das Manko von Erdogan und seinen Schergen. Die Lage der Frauen zB hat sich seit dessen Amtsübernahme deutlich verschlechtert. In türkischen Gefängnissen wird weiter gefoltert und die Menschenwürde mit Füßen getreten. Das ist das Problem und nicht ob die Mehrheit der Türken lieber Beethoven oder Tarkan hört...

  • S
    sub

    ich glaub die taz hat da was nicht richtig verstanden..die türkei hebt jetzt ihre nationale kultur deshalb so hervor, weil sie sich auf die aufnahme in die eu und die damit einhergehende europäisierung vorbereiten.

    außerdem will man so sehr in die eu, dass man den eu gegnern noch ein wenig entgegenkommt, damit sie es nicht gar zu verhindern versuchen.

    das was ihr als mögliche abwendung von der eu versteht, ist eben genau das gegenteil.