Psychoanalytiker über Indien: "Es ist ein Umbruch"

Indien muss erst noch zu einer Nation finden, sagt der Psychoanalytiker Sudhir Kakar.

"Früher waren wir alle Bettler, heute sind wir alle Computerleute": Indische Schüler surfen im Internet. Bild: dpa

taz: Herr Kakar, Bundespräsident Köhler wollte mit Ihnen und der indischen Regierung über eine neue, kooperative Weltordnung sprechen. War das zu viel verlangt?

Sudhir Kakar: Grundsätzlich nicht. Unsere alten heiligen Schriften sehen die Welt als eine große Familie. Wir glauben traditionell, dass viele Wege zur Wahrheit führen. Das sind nach wie vor gute Voraussetzungen für weltpolitische Gespräche. Aber als Nation begreifen wir uns erst seit der Unabhängigkeit vor 63 Jahren. Dieser große Umbruch beschäftigt uns bis heute. Was bedeutet es, Inder zu sein? Was ist für uns Ausland? Wir haben noch keine fertigen Antworten.

Warum?

Identitäten beginnen im Kleinen. Heute reicht die politische Identifikation für viele Inder bis zur regionalen Ebene, früher war es die Dorfebene. Das ist schon ein Fortschritt. Aber wir können diesen Prozess nicht verkürzen. Und bevor wir unserer nationalen Identität nicht sicher sind, fällt es uns schwer, als Nation nach außen zu kommunizieren. Das ist typisch für jeden Prozess der Identitätsfindung.

Wo hapert es bei der Identitätsfindung?

Manche machen sich immer noch falsche, unrealisierbare Ideen von ihrem Land. Zum Beispiel dass sich Indien ausschließlich auf einer hinduistischen Kultur und Tradition gründet. Ebenso unrealistisch ist die Vorstellung von Indien als rein säkulärer Nation im linken politischen Spektrum. Doch existiert die indische Identität durchaus heute schon. Bengalen und Punjabis sind sich viel näher, als die Inder den Europäern nahe sind. Kaum ein Inder, der im Ausland gelebt hat, zweifelt noch an seiner indischen Identität. Auch deshalb glaube ich, dass sich der Prozess unserer Identitätsfindung in Zukunft eher beschleunigen wird.

Trotzdem denkt Indien noch nicht an die Weltgesellschaft?

Das steht nicht oben auf der indischen Agenda. Natürlich redet unsere Regierung ständig von internationaler Kooperation. Aber im Grund bleibt das für die Menschen hier abstrakt.

Überschätzt der Westen Indien?

Natürlich. Früher waren wir alle Bettler, heute sind wir alle Computerleute. Aber das falsche Bild von heute schadet nicht so. Mit den neuen Ansprüchen, die der Westen an uns heranträgt, stärkt er von außen unseren Integrationsprozess.

Sie sind Deutschlandkenner. Was stört Sie am deutschen Blick auf Indien?

Man sieht uns wie die Italiener, die in den Sechzigerjahren nach Deutschland kamen. Die Herablassung gegenüber den indischen Chaoten, die sich nie organisieren können, mischt sich mit Bewunderung für gutes Essen und Improvisationskunst. Das stört uns, auch wenn es nie offen gesagt wird.

Und wie sehen die Inder Deutschland?

Es gibt bei uns noch eine polyglotte Elite, die das alte Deutschlandbild der Engländer hat. Für sie sind die Deutschen den Nazis noch sehr nahe. Die mehr inländische, hinduistische Elite aber hat ebenfalls noch nicht den Respekt abgelegt, den sie Deutschland gerade wegen Hitler und seinem Kampf gegen die Kolonialmacht England schuldet. Sie sagen: Hitler war Vegetarier und Tierliebhaber. Die Deutschen müssen also noch viel Aufklärungsarbeit bei uns leisten.

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