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die wahrheitVertonte Depressionen

Früher war ich ein bekennender Musikfaschist. Kaum lief irgendwo Musik, die nicht meinem Geschmack entsprach, spie ich meine geballte Abscheu aus …

… fluchte und setzte alles daran, den anwesenden Mitmenschen klar zu machen, warum diese Mucke das Allerletzte ist. Das betraf so ziemlich alles, was nicht Metal oder zumindest harte Rockmusik war und prinzipiell alles, was eine Chart-Platzierung unter den ersten 3.000 hatte.

Heute bin ich viel offener, ich höre mir gelegentlich auch zartere Klänge an, interessiere mich für andere Stile und strafe nicht gleich jeden Popper und Reggae-Freund mit Verachtung. Doch das kann sich rächen. Etwa dann, wenn man aus Neugier - und wegen kostenloser Konzertkarten - zu einer Live-Darbietung eines gänzlich unvertrauten Künstlers geht.

Dabei versprach dieser Scott Kelly als Mitglied der metalesken US-Band namens Neurosis gar nicht so Schlimmes. Unglücklicherweise hatte er sich solo aber auf die Vertonung seiner schlimmen, tiefsitzenden Depression spezialisiert. Sein Gefühl der immerwährenden Qual projizierte er mittels Akustik- und E-Gitarre sowie alternierenden Grunz- und Jammerlauten kürzlich auch in Berlin auf das wehrlose Publikum - und damit auf mich.

Den Anfang seines Auftritts hätte man fast nicht mitbekommen: Als Roadie kostümiert blieb der gedrungene Mann mit Baseball-Kappe nach der Umbaupause einfach im fahlen Bühnenlicht stehen und fing an, aggressiv zu weinen. Nun gut, "weinen" ist vielleicht übertrieben, aber es taugt als Metapher vorbildlich.

Wollte man die Laute in Worte fassen, die er produzierte, müsste sich das in etwa so lesen: "Grrrroing, zing zing. Ive looooost everything. Schrammelschrammel, pling. All I had. Bruuumspratz. Torture!!! Grunz … Pain!" Und das war erst das erste Lied. Wobei "Lied" eine Spur zu euphemistisch ist.

Es sollten weitere Stücke nach exakt gleichem Strickmuster folgen. Dann schnallte sich der gepeinigte Scott die E-Gitarre um, und alles wurde noch viel schlimmer. Die Klampfe war bis zum Anschlag verzerrt; man könnte fast schon von Zerstörung sprechen. Mit diesem "Sound" machte er sich daran, gezielt die Resonanzen des Festsaals in Kreuzberg auszuloten. Die Töne, bei denen es die schönsten Rückkopplungen gab, spielte er dann besonders oft und sang dazu etwas von "Sunshine".

Das Publikum schien wie gelähmt. Statt scharenweise davonzulaufen, sich mit Bier zu betäuben oder einfach nur vor die Bühne zu kotzen, starrten sie diesen vermaledeiten Kelly an, der Gott sei Dank keine Family mitgebracht hatte. Gefühlte drei Stunden lang brummte und jaulte es also im Saal und keiner lief weg.

Es muss die Faszination des Schrecklichen gewesen sein, wie bei einem Autounfall. Keiner rührte sich, nur ein einzelner glatzköpfiger Riesenbrillenträger schüttelte heftig seinen Kopf, als wollte er sagen: "I feel your pain, torture me! Grunz!"

Ich habe noch an diesem Abend beschlossen, dass Musikfaschismus eine sehr vernünftige Einstellung ist, die ich schleunigst wiederbeleben sollte.

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