die wahrheit: Im Jahr des Tigers
Sushi aus Schokolade.
"Wild und explosiv, lebendig und ungestüm, groß und verwegen soll unser Alltag und die Ereignisse um uns herum werden - genau wie das Weltgeschehen im Jahr des Tigers." So lautet die wüste Prophezeiung für das gerade angebrochene Tigerjahr auf der für ihre wüsten Prophezeiungen bekannten deutschen Asiatica-Shopping-Seite dragonfruit.org.
Von einem wilden Alltag ist hier in Peking jedoch bisher nicht viel zu spüren. Als ich im Supermarkt um die Ecke ein glücksbringendes Tigerbild für unsere Wohnungstür kaufen wollte, waren nur süß aussehende Comictigerjungen im Angebot. Ich musste lange in der Stadt suchen, bis ich ein halbwegs ungestümes Tigerporträt fand.
Noch süßer geht es in diesen Tagen hinter dem Olympiastadion zu, wo man ein großes "World Chocolate Wonderland" aufgebaut hat. Für umgerechnet 9 Euro können hier 80 Tonnen belgische Schokolade betrachtet werden, aus denen Chocolatiers aus aller Welt diversen Schnickschnack geformt haben, der den Chinesen irgendwie am Herzen liegt: 500 miniaturisierte Soldaten der berühmten Terracotta-Armee, eine zehn Meter lange Replica der chinesischen Mauer, Buddhas, historisches Porzellan, Bronzen und Gemälde, Louis-Vuitton-Handtaschen, Sushi, ein Laptop, einen schwarzen Basketballspieler, Mountainbikes, Dinosaurier, Wasserkocher und einen zwei Tonnen schweren BMW.
Dazu darf man den ersten Schokoladenfall Chinas bewundern, eine Hüpfburg von Kinderschokolade, die wahrscheinlich wegen Verfettungsgefahr geschlossen ist, und in der "World Candy Hall" neben dem größten Dauerlutscher Chinas einen aus Zuckerlegosteinen gebauten Panzer.
Als ich das Schoko-Panoptikum besuchte, entfuhr es einem fassungslosen chinesischen Besucher neben mir: "Wieso macht man das bloß alles?" Die Aussteller behaupten, sie beabsichtigten, mit Hilfe von Schokolade den Menschen eine ominöse "fresh happiness" sowie "tastes in life" zu vermitteln. Ich vermute allerdings, es geht einmal mehr darum, den Chinesen die Möglichkeit zu geben, sich über die bizarren Gebräuche außerhalb des Reichs der Mitte zu amüsieren.
Dafür spricht auch die Ausstellungskoje, die dem Betrachter speziell die deutsche Schokoladenwelt nahebringen soll. Hier sind in der Fototapetenkulisse einer süddeutschen Kleinstadt neben einem Küfer mit roter Zipfelmütze ausgerechnet drei waschechte Indianer als deutsche Ureinwohner zu sehen.
Daneben steht auf einem schokoladenbraunen Schild: "In den 1920er Jahren war es deutschen Frauen nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit Wein zu trinken, weshalb clevere Geschäftsleute auf die Idee kamen, flüssige Schokolade zu erfinden. Das erlaubte es den Frauen, Wein auf elegante Weise zu genießen. Sofort wurde flüssige Schokolade beliebt bei allen europäischen Frauen."
Das ist nun ein solch fantastischer Unfug, dass ich mir hier erlaube, von ihm auf das ganze Tigerjahr zu schließen: Es wird gewiss nicht wild und explosiv, sondern wohl behämmert, blödsinnig und bescheuert werden. Also eigentlich so wie jedes Jahr.
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