Bloggerkonferenz re:publica: Kein Sendeschluss mehr
Medienwandel, Meinungsfreiheit, Netzneutralität – die Blogger-Konferenz re:publica bleibt sich treu. Und hinterfragt die These der "Demokratisierung via Netz".
BERLIN taz | Mittwoch zehn Uhr, Berlin-Mitte, Friedrichstadtpalast. Tag eins der re:publica, der größten Social-Media-Koferenz im deutschsprachigen Raum. "Wer ist in diesem Jahr zum vierten Mal dabei?", fragt Mit-Organisator Johnny Häusler vom Blog Spreeblick. Einige schauen sich verwundert an - dieses Jahr soll schon das vierte Mal sein? Warum nicht. Vereinzelt heben sich Hände.
Viele müssen zum ersten Mal da sein. 2009 wurden 1.900 Karten verkauft, 2010 sind es mehr als 2.500. In diesem Jahr ist mit dem "Quatsch Comedy Club" eine dritte Location hinzugekommen Und die FAZ füllt ihr Feuilleton zum re:publica-Start mit einer Geschichte über "die deutschen Blogger".
"165 Veranstaltungen, 265 Speaker, 30 Nationalitäten!", ruft Markus Beckedahl vom Blog netzpolitik.org in den Raum. "Wir bringen die globale Gesellschaft zusammen!" und schiebt noch den Satz nach: "Wer da noch von Selbstreferenzialtät spricht, hat was nicht verstanden".
Die re:publica findet seit 2007 jährlich in Berlin statt. Thematisch widmet sie sich dem so genannten Web 2.0. Veranstaltet wird sie von den Macher/innen der Blogs Spreeblick und netzpolitik.org.
Beckedahl versucht mit diesem Statement einem Vorwurf vorwegzukommen, der den Bloggern häufig vorgehalten wird: Zu weich sei das Ganze, man spreche doch nur über sich selbst. Mit dem diesjährigen, nach Aussage der Veranstalter, sehr international ausgerichteten Programm - die Speaker kommen von vier Kontinenten - und mit der in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Subkonferenz zu Netzneutralität werden Schwerpunkte bei den harten Themen Demokratie und Menschenrechte gesetzt. Als Highlight in der Subkonferenz Netzpolitik, ja der re:publica überhaupt, haben die Veranstalter den Vortrag des Netzneutralitätsforschers Tim Wu vom Donnerstagnachmittag herausgehoben.
Digitale Wirtschaft spielt beim Aspekt Netzneutralität auch mit hinein, kommt aber auch in einzelnen Vorträgen wie dem zur "Ökonomie von Twitter, Facebook und Co." vor. Auch ein eher ganzheitlicher Blick auf die Arbeit fehlt nicht: Co-Worker sind Freiberufler, die sich über das Netz organisieren, sich an realen Orten in ihren Städten zusammenfinden und sich so aus der Traurigkeit des alleine Arbeiten befreien.
Weiterer Schwerpunkt der Konferenz: Der Medienwandel. Darüber spricht auch der Schriftsteller und Journalist Peter Glaser. Seine Keynote "Der achte Kontinent" kommt mehr wie ein Kunstwerk daher. "Journalismus ist die zivilisierteste Form von Widerstand", "sonderbare Dinge wie das Testbild oder den Sendeschluss kennen wir heute nicht mehr", "der digitale Medienfluss verwandelt sich in eine Umweltbedingung" und "mit 26 Buchstaben lässt sich ein ganzes Universum errichten". Glaser beklagt aber auch, dass "die meisten Entwickler ihre Energie in Produkte stecken würden, die für die oberen zehn Prozent bestimmt sind" und erzählt von einer Inderin, die für ihre Mutter eine alte Olivetti-Schreibmaschine so umgerüstet hat, dass die Mutter damit Mails versenden kann.
Zweites Highlight des ersten Tages: Der Moldavier Evgeny Morozov stellt die These von der "Twitter Revolution" infrage. Während der Revolution im Iran hätten die Medien getitelt "This revolution would not happen without twitter" – dabei sei nichts über die Nachhaltigkeit der Proteste bekannt. Twitter, Facebook und Co. ermöglichten nun, die Drahtzieher der Proteste zu entlarven. "Das Netz kann Menschen auch entmutigen, an Protesten teilzunehmen", so Morossov.
Das Netz ermögliche, "das Volk ruhig zu stellen". Mit Entertainment zum Beispiel. Und es ermögliche Regierungs-Propaganda – China schaue sich Propagandatechniken von New Labor ab – und das Streuen von Falschinformationen, Stichwort "Spinternet". Und die Regimes könnten das Netz auch einfach abschalten. Alles in allem müsse man die Rolle des Netzes in autoritären Staaten grundsätzlich hinterfragen, es nicht als Heilsbringer "für Demokratisierung" ansehen und endlich mit der politischen Kritik weiterkommen als ständig nur die Frage "Ist das Netz gut oder schlecht für die Demokratie?" zu stellen.
Seine These zur Rolle des Netzes "in autoritären Regimen" hinterfragte einer aus dem Publikum. "Sie sprechen hier vom Iran oder Weißrussland. Zensur und Überwachung gibt es aber auch bei uns." Übergriffe, Willkür und Gefängnis seien in autoritären Staaten üblicher als hier, entgegnet Morozov.
Im Quatsch Comedy Club, 15 Minuten vor Beginn der Veranstaltung über Google Buzz. Der Google-Vertreter hat kein W-Lan – das stört ihn aber offenbar nicht und er hält eine Präsentation, ohne etwas zu zeigen. Google Offline.
Peter Kruse hält einen nach Angaben der Zuschauer hervorragenden Vortrag über Organisation, Demokratie, kulturelle Wertewelten und Flashmobs und stellt die Grundsatzfrage "Warum verändert das Internet Demokratie und Wirtschaft?". Das Web 2.0 sei "ein Angriff auf die etablierten Regeln", so Kruse, und führe zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse. "Die Lawine donnert bereits zu Tal... und bist du nicht willig, so brauch ich ... Geduld".
Jeff Jarvis, Journalismus-Professor an der City University of New York, warb in seinem Vortrag "The german paradox" für mehr Offenheit. "Die Deutschen sind komisch. Sie wollen ihre Daten schützen, gehen aber in die Gemischtsauna." Es sei gar "antisozial", Daten für sich zu behalten. In einer Gesellschaft von Nackten sei niemand nackt, sagt Jarvis, der selbst von sich behauptet, impotent zu sein.
Viele der Anwesenden werden seine Thesen von "Post Privacy" im Prinzip gut gefunden haben: Die Meisten finden die neuen Möglichkeiten, die das Netz bietet, hauptsächlich praktisch. Die Twitter-Dichte ist hoch, viele laufen mit ihrem Twitter-Namen auf dem "Badge" herum, das sie um den Hals tragen.
Man trifft sich zwischendurch im St. Oberholz, dem selbsterklärten Web-2.0-Mekka am Rosenthaler Platz, ein paar Straßen fußläufig vom Veranstaltungsort. Am Abend warten Veranstaltungen wie "Sex and the Internet", ein Vortrag von Sascha Lobo über "Shitstorms – seismische Empörungswellen im Netz" und eine Twitterlesung.
Die Invasion der Blogger und Geeks in Berlin-Mitte wird noch einige Tage anhalten: Die re:publica läuft noch bis Freitag (Programm). Daheimgebliebene können den Livestream aus dem Friedrichstadtpalast schauen und via Twitter-Hashtag #rp10 minutiös verfolgen, was die Teilnehmer für relevant halten.
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