Schachweltmeister im Dunkeln: Schnelle Brüter ohne Strom
Im Duell gegen Herausforderer Wesselin Topalow lässt sich Weltmeister Viswanathan Anand nicht einmal von fehlender Beleuchtung aus der Ruhe bringen.
Von Schachblindheit geschlagen ist mancher Spieler, dem ein unerklärlicher Fehler passiert. Eine Figur wird etwa sehenden Auges dämlich eingestellt. Blindschach gibt es auch und beeindruckt den Laien besonders: Weil die Akteure sich Züge entgegenschleudern, ohne die auf 64 Feldern wild zerstreuten 32 Figuren auf einem Brett zu sehen. Dass die beiden Großmeister aber unabsichtlich blind dasitzen und auf Erleuchtung warten: Dieses Novum trug sich ausgerechnet bei der Weltmeisterschaft in Sofia zu. 13 Minuten lang umhüllte Weltmeister Viswanathan Anand und seinen Herausforderer Wesselin Topalow während ihrer fünften Partie nur Dunkelheit. Ein Stromausfall hatte große Teile der bulgarischen Hauptstadt lahmgelegt.
Viswanathan Anand brütete gerade an seinem 17. Zug, als das Licht im Militärklub erst kurz flackerte und dann ausging. Beide Finalisten rührten sich nicht von ihren Sitzen auf der Bühne und analysierten weiter im Kopf ihren unsichtbaren Figurentanz. Der Schiedsrichter stellte die Uhr ab - das einzige Mal zuvor soll es während der Weltmeisterschaft 1886 eine Unterbrechung einer Partie gegeben haben. Damals hatten Wilhelm Steinitz und Johannes Zukertort im dritten Zug in New York festgestellt, dass die Schachuhr nicht lief und ausgetauscht werden musste. So einfach war der Fall 124 Jahre später nicht. Es blieb zappenduster. Die wenigen murrenden Zuschauer wurden von Sicherheitskräften zur Ruhe ermahnt, und die Hunderttausende bei der Internet-Live-Übertragung wunderten sich über die mangelnden Fortschritte auf ihren zweidimensionalen Brettdarstellungen. Ein Handy-Leuchten brachte auch nur ein mehr wenig Licht in die bizarre Szenerie.
"Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Lichter eine Stunde oder länger ausgeblieben wären. Keine Ahnung, was die Regeln bei solch einer Situation vorschreiben", kommentierte Anand lakonisch. Der Vorhang eines Fensters wurde beseitigt und sorgte für etwas Erhellung. Aber erst nach knapp einer Viertelstunde war die gespenstische Atmosphäre beseitigt, der Spuk ging allerdings weiter. Eingesetzte Strahler zuckten im Disco-Rhythmus über dem Spieltisch. Insgesamt 37 Minuten dauerte es, bis die Ordnung wieder hergestellt war.
Obwohl Anand genügend Zeit zum Brüten für seinen 17. Zug hatte, verlängerte der Inder die Pause auf seiner Schachuhr. "Es passiert sehr leicht, dass einem nach solch einer Unterbrechung die Konzentration flöten geht und man einen Fehler macht", erläuterte der 40-Jährige sein Verhalten. "Ich beschloss daher, um sicherzugehen, zusätzliche zehn Minuten in die Stellung zu investieren." Ohne Hochspannung verlief der Rest der Partie. Mit Schwarz verteidigte der indische Weltmeister in 44 Zügen ein Remis.
Der Weltmeister und der Weltranglistenzweite befanden sich auch tags darauf im sechsten Duell eher im Stand-by-Modus. Wobei das Remis in 58 Zügen für Topalow als Erfolg zu werten ist. Die vorherigen zwei Schwarz-Partien hatten jeweils mit herben Niederlagen für den Bulgaren geendet. Wegen des Farbwechsels zur Halbzeit des mit 2 Millionen Euro dotierten WM-Zweikampfs erhält Anand heute wieder den Vorteil, mit den weißen Steinen die Partie beginnen zu dürfen.
Trotz seiner 3,5:2,5-Führung ließ der "Tiger von Madras" den bisherigen Verlauf des Matchs gewohnt vorsichtig Revue passieren: "Ich konzentriere mich weiter auf jede einzelne Partie", vermied er jede konkrete Aussage. Deutlicher formulierte Topalow seine Leistung nach dem Rückstand: "Mehrmals unterliefen mir kleine Ungenauigkeiten, sodass ich in ein paar Partien meinen Vorteil einbüßte. Ich muss präziser spielen, wenn ich noch etwas erreichen will."
Den Stromausfall wertete die bulgarische Regierung als peinliche Staatsaffäre. Ministerpräsident Bojko Borissow, der als Schirmherr den ersten Zug der Schach-WM ausgeführt hatte, wies das Energieministerium und den Energiekonzern CEZ an, ein Entschuldigungsschreiben an die Beteiligten zu veröffentlichen.
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