SEXUALISIERTE GEWALT: "Jungen wird nicht geglaubt"
Nicht nur Jungen selbst glauben, keine Opfer sein zu dürfen, sagt der Jungen-Therapeut Volker Mörchen. Auch Erwachsene können sich das oft nicht vorstellen
taz: Herr Mörchen, Sie haben als Mitarbeiter des Bremer Jungenbüros den Wuppertaler Appell mit unterzeichnet. Darin wird gewarnt, dass die Jungen und Männer, die sich jetzt nach der großen Medien-Aufmerksamkeit trauen, über Missbrauchs-Erfahrungen zu sprechen, keine Ansprechpartner finden. Für Bremen gilt das nicht, oder?
Volker Mörchen: Es ist richtig, dass Bremen eine der wenigen Städte ist, in denen es mit uns ein jungenspezifisches Beratungsangebot gibt. Aber mit einem solchen steigen auch die Fallzahlen, das Dunkelfeld erhellt sich stärker als an Orten, an denen so eine Einrichtung fehlt. Und es geht ja nicht nur um die Beratung von Betroffenen, sondern auch um Prävention, wozu die Fortbildung in Schulen und Kindergärten gehört. Dafür reichen unsere Kapazitäten überhaupt nicht aus. Und für erwachsene Männer gibt es hier fast nichts.
Wie viele Jungen werden Opfer von sexueller Gewalt?
Soziologe und Soziotherapeut, arbeitet seit neun Jahren im Bremer Jungenbüro, dessen Beratungsstelle 2007 eröffnet wurde.
Das weiß niemand sicher, weil große repräsentative Studien, wie es sie bei Frauen gegeben hat, fehlen. Dabei war schon einmal eine Pilotstudie initiiert worden, von der damaligen Familienministerin Christine Bergmann, die jetzt von der Bundesregierung mit der Aufarbeitung des Themas beauftragt wurde. Gefolgt ist dem aber nichts.
Wovon gehen Sie aus?
Manche sagen aufgrund der Studien, die es gibt, jeder siebte Junge. Ich spreche, auch wenn wir Schulklassen hier haben, von jedem Elften. "Stellt euch vor, dass in jeder Fußballmannschaft einer ist, dem so etwas passiert ist."
Können sich die Schüler das vorstellen?
Das ist für viele Menschen, egal wie alt, sehr schwer. Da heißt es schnell: "Jungen können sich doch wehren, wenn er es nicht gemacht hat, dann muss er es ja wohl gewollt haben." Täter nutzen so etwas aus, die sagen ihnen auch: "Du hast ja mitgemacht."
Jungen werden keine Opfer…
Das würde jeder Junge sofort unterschreiben. Deshalb brauchen die ja oft so lange, manchmal 30, 40 Jahre, bis sie sich eingestehen, dass das, was sie erlebt haben, nicht in Ordnung war, dass es sie belastet. Für sie steht noch mehr auf dem Spiel als für Mädchen, wenn sie das sagen, weil sie Angst haben müssen, aus der Gruppe der Jungen und Männer ausgestoßen zu werden.
Inwiefern?
Sie fühlen sich "entmännlicht", zu "Mädchen" oder zu "Schwulen" gemacht. "Bin ich jetzt noch ein richtiger Junge?", fragen sich fast alle. Wir erleben, dass manche Jungen, über die das bekannt wird, von Gleichaltrigen gemobbt werden. Und sie werden oft zu "Freaks" gemacht, zu denen Bekannte und Familienangehörige ihre Kinder nicht mehr lassen. Viele Jungen sagen auch deshalb nichts, weil sie dann gleich als potenzielle Täter gelten. Das befürchten manchmal sogar ihre eigenen Eltern.
Zurecht?
Vielleicht tragen Jungen Konflikte eher nach außen und werden übergriffig auf andere Kinder, aber längst nicht alle!
Zeigen Jungen andere Symptome als Mädchen?
Nein, das hängt vom Kind ab, es gibt alle möglichen Anzeichen.
Bei denen bei Jungen aber noch seltener an sexuelle Gewalt gedacht wird?
Ja, Jungen werden weniger ernst genommen. Die sagen ja nicht "der oder die hat mich sexuell missbraucht", sondern vielleicht "da will ich nicht hin, der stinkt". Ganz unvorstellbar wird es offenbar, wenn eine Frau die Täterin ist. Dann sagt der Junge: "Die Babysitterin fasst mich komisch an." Und die Eltern denken: "Na, die wird schon ihre Gründe gehabt haben, wer weiß, was er wieder angestellt hat."
Gilt ein Missbrauch durch Frauen als weniger dramatisch?
Ich höre immer wieder Sätze wie: "Wie soll denn das gehen, ein Missbrauch ohne Penetration? Dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein." Aber wenn ein Kind die Nachbarin regelmäßig oral befriedigen muss, dann ist das genauso schlimm. Für die Täterinnen ist diese Wahrnehmungslücke ein Vorteil.
Wie hoch ist deren Anteil?
Der Berliner Verein Tauwetter arbeitet mit Männern, von denen ein Viertel von einer Frau missbraucht worden ist.
In der öffentlichen Debatte wird der Missbrauch von Jungen oft in Verbindung zu Homosexualität gesetzt.
Wir hören neuerdings von Zehnjährigen, wenn wir sie fragen, ob sie wissen, was sexueller Missbrauch ist, "das machen nur Schwule". Dabei hat das mit Homosexualität nichts zu tun, es geht um Macht und Gewalt. Viele Täter missbrauchen sowohl Mädchen als auch Jungen, das Geschlecht ist hier "Kind".
Ist es wichtig, dass Jungen sich Männern anvertrauen können - auch in Kita oder Schule?
Wichtiger ist, dass sie Vertrauen in die Person haben, dass die auch wirklich etwas tut. Aber es scheint so zu sein, dass es vielen peinlicher ist, einer Frau so etwas zu erzählen als einem Mann. In den Beratungsstellen sind männliche Mitarbeiter notwendig, um Jungen zu zeigen, dass sie Junge sein und ein "Mann" werden können, auch wenn sie Opfererfahrungen gemacht haben. Es macht einen großen Unterschied, ob ihnen eine Frau oder ein Mann das sagt.
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