Im Radiopalast der Republik

DEUTSCHES DEMOKRATISCHES RADIO Im Rundfunkstudio in Oberschöneweide wurde Hörfunk-geschichte Ost geschrieben. Vor der Wende produzierte Heiner Müller hier, heute werkeln nur noch Einzelkämpfer. Einer von ihnen berichtet

VON JAN SCHEPER

Der Frühjahrsschnee knirscht unter den Sohlen. Verlässt man in Oberschöneweide an der Tramstation Köpenicker Chaussee/Blockdammweg das ruckelige Gefährt, so sind die umstehenden Backsteinbauten aus den 50ern und das alte Heizkraftwerk dort nicht nur von Vormittagskälte umgeben. Nein, die Zeit selbst scheint eingefroren zu sein. Stünden hier nicht zwei Tankstellen jüngeren Jahrgangs, ließe sich der kurze Fußmarsch zum ehemaligen DDR-Rundfunkhaus an der Nalepastraße als Gang durch ein urbanes Freilichtmuseum verkaufen.

Kurz darauf steht man vor einem gewaltigen Gebäudekomplex. In diesem großen, dunkelroten Klotz werkelten bis zur Wende auf acht Etagen RedakteurInnen am sozialistischen Radioprogramm. Die Fensterfronten des geklinkerten Gebäudes wirken wie kleine, einzelne Lautsprechermembranen.

Auf der Rückseite, direkt am Spreeufer, bestellt Toningenieur Andreas Meinertsberger einen Kaffee in der Kantine. „Früher“, sagt Meinertsberger, „haben hier 3.000 Leute auf einem Areal von vierzehn Hektar gearbeitet. Es gab eine eigene Polyklinik, einen Konsum, eine Sauna und eine Feuerwehr – es war wie eine kleine, autarke Radiostadt.“ Heute sieht man auf dem Gelände kaum einen Menschen. An der Zapfsäule in unmittelbarer Nachbarschaft ist mehr Betrieb.

Meinertsberger, 54, kennt auf dem riesigen Areal jede Tür, jedes Mikro und jede Kabelschelle. 1980 begann er mit der Lehre zum Tontechniker. 1991 absolvierte er die Meisterprüfung. Er hat sein halbes Leben im Hörspielstudio H2 verbracht. Das H2 befindet sich im denkmalgeschützten Anbau, dem Produktionskomplex neben dem Hauptgebäude. Den gesamten Block hat der Bauhaus-Architekt Franz Ehrlich Anfang der 50er Jahre entworfen. Ein Prestigeobjekt, rein optisch einem schlafenden Dinosaurier ähnelnd. Alle Aufnahmestudios (drei Musikaufnahmesäle und die beiden Hörspielstudios H1/H2) des einstigen DDR-Radios logieren in dessen Bauch.

Für sechs überregionale Programme wurde hier ab 1956 produziert. Egal ob Hörspiel, politisches Wort oder Kammerkonzert, die Produktion war hier zentralisiert. Nach der Wende nutzte vor allem der neu gegründete Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) das Hörspielstudio H2. Ab 1997 gab es keine Produktionen mehr. Seither arbeiten Meinertsberger und sein Partner Peter Kainz, ebenfalls bereits zu DDR-Zeiten Tonmeister und seit 1969 an der Nalepastaße, auf eigene Rechnung.

Kainz sitzt gerade mit der Autorin Christiane Seiler im Studio und produziert für Deutschlandradio Kultur ein Feature über Schäfer in Brandenburg. Aus den Boxen im holzvertäfelten Regieraum, den Meinertsberger und Kainz nach und nach mit moderner Technik ausgestattet haben, ertönt die Stimme von einem der Protagonisten. „Hat der Schäfer keinen Plan, geht’s der ganzen Herde schlecht“, erklärt der Hirte seine Arbeitsphilosophie.

Die bis zu sechs Meter hohen und bauakustisch perfekt zugeschnittenen Aufnahmeräume haben im Laufe der Jahrzehnte Hörfunkgeschichte geschrieben. Meinertsberger erinnert sich an eine der denkwürdigsten Produktionen zu DDR-Zeiten: Die Inszenierung von Bertolt Brechts Dramenfragment „Fatzer“. Er hat es 1988 bearbeitet, unter der Regie von Heiner Müller. In dem Stück, an dem Brecht zwischen 1926 und 1930 schrieb, geht es um eine Gruppe Deserteure, die sich im Ersten Weltkrieg von der Truppe absetzen. Unter ihnen ist Johann Fatzer, der vom sinnlosen Töten auf Befehl genug hat. Er will wenigstens für sich mit dem Krieg abschließen. Am Ende bezahlt er seinen Ungehorsam mit dem Leben. Diesen Stoff damals – kurz vor der Wende – über den Äther zu schicken war mehr als brisant. Die Hintergrundmusik steuerten die Einstürzenden Neubauten bei.

Meinertsberger spricht über den Ostdramatiker Müller wie über einen väterlichen Freund: „Er hat uns damals die Augen geöffnet.“ Die Untergangsstimmung, die das Stück verbreitete, war sinnbildlich für das Ausläuten der DDR. Wir waren damals Mitte zwanzig. Wir waren hin und her gerissen zwischen Gehen und Bleiben.“ Müller diskutierte häufig mit dem Produktionsteam. Über Drama und über Realität. Über das Drama der Realität. „Wir haben ihn und alles, was er sagte, aufgesogen.“

Das letzte Großprojekt im Hörspielstudio H2 war die 22-stündige, letztjährig gesendete SWR-Adaption des James-Joyce-Klassikers „Ulysses“. Fast zwei Jahre hat Meinertsberger gemeinsam mit Regisseur Klaus Buhlert und viel Sprecherprominenz an dem Mammutwerk gearbeitet. Auch weil für den renommierten Buhlert das Studio „einer der besten Aufnahmeorte in Deutschland“ ist.

Wie Leopold Bloom in Joyce’ Roman hat auch das DDR-Rundfunkhaus eine wechselhafte Reise hinter sich – im Hinblick auf die Eigner. Denn nach der Fusion von Sender Freies Berlin und Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg zum Rundfunk Berlin-Brandenburg 2003 verscherbelten die damaligen Eigentümer – zu unterschiedlichen Anteilen die fünf ostdeutschen Bundesländer und Berlin – das Funkhaus wegen der enormen Betriebskosten für 350.000 Euro an einen Privatinvestor, der es bald für mehr als das Zehnfache weiter verkaufte. Der Verkaufswert lag seinerzeit bei schätzungsweise 21 Millionen Euro – Berlin und Brandenburg erhielten für das 13 Hektar große Areal also nicht mal 2 Prozent dieser Summe. Später nahm ein munteres Inhaberwechselspiel seinen Lauf – derzeitiger Besitzer ist die Keshet Geschäftsführungs GmbH & Co.

Meinertsberger ist es leid, darüber zu reden. Er weiß, dass eine umfassende Sanierung wohl auch etwa 20 Millionen kosten würde. „Bisher wurde nur das Nötigste gemacht“, sagt er. Nun liegt in der Stimme des Produzenten zum ersten Mal so etwas wie Enttäuschung.