Debatte Sicherheitsverwahrung: Aus Prävention wird Strafe

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zwingt zur Reform der Sicherungsverwahrung.

Rund fünfhundert Menschen sitzen derzeit in Deutschland in Sicherungsverwahrung. Sie haben ihre Haftstrafe verbüßt und müssen dennoch im Gefängnis bleiben. Diese "Haft nach der Haft" wird damit gerechtfertigt, dass die Verwahrten fortdauernd gefährlich sind. Die Verwahrung ist der drakonischste Eingriff, den das deutsche Sicherheitsrecht kennt. Jetzt muss die Sicherungsverwahrung reformiert werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Verwahrung aus europäischer Sicht keine Prävention, sondern Strafe ist. Diese Entscheidung eröffnet rechtsstaatliche Chancen, aber auch Risiken.

Das Straßburger Urteil wirkt auf den ersten Blick fortschrittlich. Nun müssen rund 70 Menschen aus der ohnehin suspekten Sicherungsverwahrung entlassen werden. So geht der renommierte Psychiater Norbert Leygraf davon aus, dass man aufgrund prognostischer Schwierigkeiten zehn Personen vorsorglich einsperren muss, um auch einen wirklich gefährlichen festzuhalten. Andererseits gibt es auch Menschen wie Reinhard M., den Kläger in Straßburg. Er saß nicht aufgrund vager Prognosen in Sicherungsverwahrung, sondern weil er nach jeder Haftentlassung gleich wieder rückfällig wurde, oft sogar schon im Gefängnis oder im Rahmen von Vollzugslockerungen. Zwei Mordversuche und viele andere Gewaltdelikte gehen auf sein Konto. Wenn nun Menschen wie er aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, ist das kein Grund zur ungetrübten Freude.

Zwar muss ein demokratischer Staat damit leben, dass auch vermeintlich gefährliche Menschen frei kommen, wenn rechtsstaatliche Fehler gemacht wurden. Hier liegt der Fall aber eher andersherum, denn das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte ist falsch. Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe, sondern Vorbeugung. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht 2004 in einem überzeugenden Urteil entschieden. Eine Strafe ist auf Straftaten in der Vergangenheit bezogen und wird im Umfang durch die Höhe der Schuld bestimmt. Die Sicherungsverwahrung will dagegen Gefahren in der Zukunft abwehren und ist durch die angenommene Gefährlichkeit des Täters bedingt. Wenn der verwahrte Täter nicht mehr gefährlich ist, muss er sofort entlassen werden. Deshalb ist die Sicherungsverwahrung eindeutig eine Prävention, keine Sanktion.

Besonders ärgerlich ist aber, dass das EGMR-Urteil vom letzten Dezember vor einigen Tagen überraschend rechtskräftig wurde. Die Straßburger Richter ließen das deutsche Rechtsmittel nicht einmal zur Verhandlung zu. Ohne Begründung entschieden die Richter, dass die Frage keine grundsätzliche Bedeutung habe. Ein Affront, eine Selbstherrlichkeit, die die Akzeptanz des Straßburger Gerichts nicht erhöhen wird. Der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hat am Freitag bereits gefordert, dass sich der EGMR nicht mehr in Staaten einmischen soll, die eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit haben.

Strafe oder nicht - Auswirkungen hat dies auf die Frage, ob Verschärfungen der Sicherungsverwahrung auch für jeweils bereits einsitzende Täter gelten. Karlsruhe hat dies zugelassen, zu Recht, denn Prävention muss sofort wirken. Das Straßburger Urteil sorgt aber dafür, dass Gesetzesänderungen zur Sicherungsverwahrung nur für Neuverurteilte wirken, also erst Jahre später - nach Verbüßung der eigentlichen Strafhaft. Nun müssen alle Verwahrten entlassen werden, die schon 1998 verurteilt waren, als der Bundestag die zehnjährige Befristung der Sicherungsverwahrung aufhob.

Will der Bundestag solche Rückwirkungsprobleme künftig vermeiden, müsste er die Sicherungsverwahrung so ausgestalten, dass auch Straßburg sie nicht mehr als Strafe einstuft. So könnte darauf verzichtet werden, die Sicherungsverwahrung nur nach bereits begangenen Straftaten zu verhängen. Doch das verbietet sich von selbst. Denn dann würde jemand nur aufgrund von prognostischen Gutachten weggesperrt. Im Gegenteil ist sogar darauf zu bestehen, dass nur Rückfalltäter und nicht auch Ersttäter in die Sicherungsverwahrung kommen.

Wenn Straßburg moniert, dass es in der Sicherungsverwahrung keine ausreichenden Therapiemöglichkeiten gibt und die psychologische Betreuung der oft perspektivlosen Häftlinge schlecht ist, dann gilt dies für Langstrafer genauso. Der EGMR spricht richtige Punkte an, die bei der Unterscheidung von Strafe und Prävention aber gerade nicht den Unterschied ausmachen sollten.

Bleibt am Ende nur die Ausgestaltung der Haftbedingungen in der Sicherungsverwahrung. Wer vorsorglich inhaftiert wird, sollte zum Beispiel eine deutlich bessere Ausstattung seines Haftraums bekommen, deutlich bessere Freizeitmöglichkeiten und deutlich großzügigere Besuchsregelungen als derjenige, der eine Strafe absitzt. Und damit dies in den Gefängnissen nicht zu Neid und Unruhe führt, sind auch separate Anstalten für Sicherungsverwahrte sinnvoll. Nur wenn die Politik dies wagt (und es aushält, dass die Bild-Zeitung von "Hotel-Vollzug" krakeelt), wird das Urteil unter dem Strich positive rechtsstaatliche Folgen haben.

Umgekehrt besteht aber auch die Gefahr, dass nun die Regeln der Sicherungsverwahrung ganz massiv verschärft werden, um nie wieder Rückwirkungsprobleme zu bekommen. Der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm hat diese Richtung vorgegeben. Bei bestimmten Tätergruppen, insbesondere Sexualtätern, soll die Sicherungsverwahrung automatisch angeordnet werden. Der Täter müsste dann nach Verbüßung der eigentlichen Strafe stets beweisen, zum Beispiel durch eine erfolgreiche Therapie, dass er nicht mehr gefährlich ist.

Absehbar säßen dann Tausende in Sicherungsverwahrung, nicht nur Hunderte. Aber die Straßburger Vorgaben wären erfüllt. Eine derartige Reform wäre ein Pyrrhussieg für die Rechtsstaatlichkeit. Die Sicherungsverwahrung darf aber nicht zur Regel werden, sondern muss die seltene Ausnahme für wiederholte Rückfalltäter bleiben.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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