Stadt, Land, Duft

Man lebt ja mittlerweile in der großen Stadt, fast jeder, außer die, die trotzig auf dem Land bleiben oder dorthin ziehen, die, die den Rummel der Stadt nicht brauchen und nicht wollen. Ich finde es gut, in der Stadt zu leben, eine Stadt nicht zu groß und nicht zu klein, groß genug, um als Großstadt zu gelten und klein genug, um übersichtlich und verständlich zu bleiben. Dort kann man alles kaufen, was man will, es gibt so viele Orte, wo man arbeiten könnte, wenn man wollte, man kann alles erleben, was man zu erleben gewillt ist. Um nichts in der Welt würde ich aufs Land ziehen! Fast alles, was man dort findet, findet man in der Stadt auch. Ruhe – zuhause hinter geschlossenen Fenstern, Entspannung – im nächsten dieser neu gebauten Wellnesscenter, Platz – im Park, der ist groß genug, wenn man nur nicht nachmittags dorthin fährt, denn dann sind die Familien mit den kleinen Kindern da. Tiere sind auch kein Problem – im Stadtzoo. Selbst die Mobilität – auf dem Land gibt es ja weniger Staus – finde ich hier ebenso, kann ich doch mit der U-Bahn fahren. Die U-Bahn steht in den seltensten Fällen im Stau.

Nur eines gibt es hier nicht. Den spezifischen Land-Geruch. Geruch nach Wiese und Himmel und Pferdemist, das gibt es in der großen Stadt nicht. Manche finden das nicht schön. Ich finde es wunderbar. Es ist aber nur ein Duft von einer gewaltigen Palette aus schönen Düften, eine Palette mit Düften zusammengemischt aus unzähligen, unendlich vielen Gerüchen.

Ohne die Nase wäre das Leben fade, man weiß, dass das Essen bei Schnupfen nur halb so gut schmeckt. Wenn man etwas mag, so liegt es sicher zu einem gewissen Teil an seinem Duft, fast immer. Es gibt nur seltene Ausnahmen. Nun, ich setze viel mehr auf meine Nase als auf meine Augen. Unübersehbar sind die Vorzüge der Augen, trotzdem gefällt es mir ganz besonders, wenn ich in kurzen Zügen meine Umgebung in mich hineinsauge und jeden Duft in seine ihm eigene Schublade lege, um ihn bei Bedarf wieder herauszuholen. Herrlich, dieser erste Atemzug, wenn man nach einer langen Reise aus dem Auto steigt, der erste Atemzug, der die abgestandene Autoluft aus dem Körper verdrängt und in der Nase explodiert.

[...] Ich habe letztens einen sehr langen und sehr ernsten Artikel über Telefonzellen gelesen. Telefonzellen werden nicht mehr gebraucht. Seit die Welle der Mobiltelefone zu uns geschwappt ist, stehen Telefonzellen immer öfter leer. Ich bin eine Liebhaberin von Telefonzellen. Früher habe ich mich manchmal, ohne die Absicht zu telefonieren, in eine Zelle gestellt, das dicke, von fettigen Fingern zerfranste Telefonbuch durchgeblättert, den Hörer zur Tarnung ans Ohr gehalten, den Automaten, von nicht angenommenen Münzen angerubbelt, angesehen und mich gegen die Wand gelehnt. Ein schönes Gefühl von Sicherheit ist das, wenn der Verkehr tobt, die Leute eilen und man selbst steht in einer Zelle, zwar eingesperrt, doch trotzdem mit dem Gefühl, den Alltag von außen, von oben und vor allem mit viel Abstand zu betrachten. Man wurde nur durch das Klopfen eines andern, der es eilig hatte mit Telefonieren, geweckt und wieder hinausgeholt. Nachts gab eine Telefonzelle in einer fremden Gegend mit ihrem warmen Licht den Eindruck von Zuhauseankommen, wunderbar, der gelbe Leuchtturm im unbekannten Meer. Einzig und allein der meist anzutreffende Geruch von Urin in diesem gelben Leuchtturm war und ist unangenehm. Mittlerweile stelle ich mich nur noch sehr selten in eine Telefonzelle. Man wird so komisch angeguckt, selbst mit dem Hörer zur Tarnung am Ohr. Man gehört ja, aus dieser freiwilligen Kurzgefangenschaft sowohl in einer stinkenden kleinen Zelle als auch in der Immobilität resultierend, zu den altmodischen, Ewiggestrigen, die sich immer noch weigern, ein Handy zu benutzen, aus welchen Gründen auch immer.

Letztens wurde in meiner Wohngegend eine Telefonzelle abgerissen, so eine gelbe, unten hingen traurig Kabel heraus, als die Zelle auf einen Wagen verfrachtet und weggefahren wurde. Telefonzellen sind altmodisch und out. Für mich aber sind diese kleinen gelben Häuschen nicht altmodisch, ich finde sie sogar sehr modern, aus einer Zeit, als man, einfach so, telefonieren konnte, auf der Straße und nicht von zuhause aus. Innerhalb von wenigen Jahren sind Telefonzellen aufs Abstellgleis geraten. Man sollte sie so ernst nehmen wie die Engländer es tun, denen sind ihre kleinen roten Telefonboxen noch heilig. Nun habe ich wohl wieder ein wenig zu weit ausgeholt. Doch der geneigte Leser wird es vielleicht dunkel ahnen: Ich möchte meine Liebe zu Düften mit meiner Liebe zu Telefonzellen kombinieren. Und zwar folgendermaßen – ohne fundierte sachliche Informationen über die Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens vorweisen zu können: Man sauge Düfte auf in absolut luftdichte, geruchsneutrale Behälter. Diese Behälter verfrachte man in die große Stadt, schließe sie an die Telefonzellen an und erhalte somit eine duftige, originelle, für alle zugängliche Auszeit von der Stadt und ihrem Smog. Mir schwebt ein breites Sortiment an verschiedenen Düften vor. Man könnte Alpen-Duft importieren, salzigen Meeresduft, Sommerwiesen-Duft, Waldduft, Land-Duft, Sumpf-Nebel-Duft, Winter-Duft, Toskana-Duft, Apfelernte- Acker-Duft gemischt mit einer Note Burgruinenduft... es gibt ja so viele Düfte, die riechenswert sind. Komprimiert in einer kleinen Zelle, der Riech-Zelle, würden sie einen Kurztrip aus der Stadt bedeuten. Gestresste Städter könnten sich auftanken, manche in der Mittagspause flugs für fünf Minuten guten alten Frische-Erde- Duft schnuppern, Liebespaare Venedig-Duft für die Flitterwochen zwischendurch. Man könnte pro Riecheinheit Geld nehmen, nicht viel, nur um die Selbstkosten zu decken. Vielleicht würden die Krankenkassen solche Riechtrips bezahlen, kosteten sie doch deutlich weniger als eine Kur.

Düfte sind eine feine Naturmedizin, wie oft hat man schon gehört und gesagt, dass die frische Luft dem angeschlagenen Körper gut tun werde? Man könnte eine Wählscheibe anbringen, mit der man den gewünschten Duft wählt. Jeder könnte den individuell benötigten Duft bestellen und nach jeder Beduftung, wenn der Konsument gegangen wäre, würde ein Sauger noch das kleinste Restchen des vorherigen Duftes beseitigen, bis die Zelle geruchsneutral bis auf ein klein wenig Telefonzellen-Duft wäre. Fantastisch! Vielleicht würden die Leute auf dem Land, von dem gewaltigen Erfolg der Riechzelle überwältigt, auch nach dieser wunderbaren neuen Errungenschaft verlangen. Schließlich braucht jeder die kurzzeitige Flucht aus dem Alltag und der gewohnten Umgebung, natürlich auch die Leute auf dem Land. Bald würden auch Riechzellen auf dem Lande stehen. Doch dafür müsste ich mir neue Kreationen überlegen. Ich würde mich in mein Labor zurückziehen und nach Monaten harten Ringens würde ich zweifelsohne mit Kreationen auftauchen, die eine zarte Smognote hätten. Fantastisch! Vorerst sind dies jedoch nur Träumereien. Träumereien, die ich, obwohl ich mir dessen bewusst bin, nicht hergeben will.

Ich ziehe in der nächsten Woche nach Oberaschburg, in die Provinz. Notgedrungen, aus Gründen, die nicht dringlicher sein könnten. Trotzdem nicht freiwillig, denn mein Herz blutet bei dem Gedanken, meine Stadt verlassen zu müssen. Wie gern hätte ich doch eine Riechzelle mit Smog-Duft!

Fotohinweis: Anna Lu (16) schreibt Geschichten, seitdem sie „einen Stift halten kann“. Schriftstellerin ist ihr Traumberuf – zur Sicherheit will sie zunächst aber Physik studieren