Kommentar Türkei: Des Machogehabes müde
Die Häme aus dem Regierungslager, Kilicdaroglu sei ein "schwacher Führer", könnte sich gerade zu seinem Vorteil auswirken.
S eit dem letzten Samstag hat "The Wind of Change" auch die Türkei erreicht, zumindest die türkische Opposition. Die neue Parteiführung der CHP mit Kemal Kilicdaroglu an der Spitze verspricht, die Agonie der Opposition zu beenden und endlich wieder eine politische Alternative zur islamisch grundierten Alleinherrschaft der AKP unter Tayyip Erdogan aufzubauen.
Bislang lebte die AKP auch und nicht zuletzt von der Schwäche der Opposition. Deniz Baykal, der lange, lange Jahre die CHP beherrschte, hatte die einstige sozialdemokratische Partei von Bülent Ecevit immer mehr und immer tiefer in eine rechte, nationalistische Ecke manövriert. Für die CHP unter Baykal gab es nur noch den Kampf für die Bewahrung des kemalistischen Erbes und seiner laizistischen Tradition.
Und so war es Baykal, der die Sozialdemokraten und Linke, aber auch viele moderne Türken, die zur konservativen-islamischen AKP eine Alternative suchten, praktisch politisch heimatlos machte. Denn seine rückwärts gewandte CHP war für Leute dieser Einstellung einfach nicht wählbar. Gleichzeitig scheiterten alle Neugründungen, die das von Baykals CHP geschaffene Vakuum füllen wollten, an der Zehnprozenthürde, die eine Partei in der Türkei überwinden muss, um ins Parlament zu kommen.
Alle diese politischen Strömungen setzen nun auf Kilicdaroglu. Begeistert stellten etliche Kommentatoren nach dessen Antrittsrede auf dem Parteitag fest, dass er in einer Stunde kein einziges Mal das Wort Laizismus benutzt hat. Stattdessen sprach er von Arbeitslosigkeit, von einer Familienversicherung und von einer Stärkung der Gewerkschaften. Er will weg von der unheilvollen Allianz mit dem Militär, für die Baykal stand. Statt über Religion und Kemalismus, über Kopftuch und Stahlhelm, wird in der Türkei plötzlich wieder über Korruption, Arm und Reich und Arbeit für alle geredet. Fast schon über Nacht ist der Mann zu einem Hoffnungsträger weit über seine Partei hinaus geworden.
Dabei hat Kilicdaroglu bislang noch viele Fragen offengelassen. Seine Aussagen zum türkischen EU-Beitritt gingen über Floskeln nicht hinaus, wie überhaupt die Außenpolitik für ihn noch keine Rolle spielt. Klare Aussagen zu Minderheitenrechten blieb er gleichfalls schuldig. Bislang hat die CHP systematisch gegen Verbesserungen für religiöse oder ethnische Minderheiten votiert. Doch auch wenn der neue Parteichef keine ethnische Politik machen will, wie er sagte, Kilicdaroglu kommt aus einer alevitisch-kurdischen Familie und wird deshalb der kurdischen Frage sicher mehr Empathie entgegenbringen, als Baykal das getan hat.
Die Türken erwarten jetzt eine konstruktive Opposition. Die meisten von ihnen sind das Machogehabe von Baykal wie von Erdogan mehr als leid. Die Häme aus dem Regierungslager, Kilicdaroglu sei ein "schwacher Führer", könnte sich infolgedessen gerade zu seinem Vorteil auswirken. Nach dem Getöse der letzten Jahre sind viele Wähler und Wählerinnen durchaus angetan von dem Gedanken, mal wieder in einem zivilen Ton angesprochen zu werden.
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