„Die Uckermärker sind stur“

Die Frau, die heute zur ersten Bundeskanzlerin gewählt werden soll, wuchs in Templin auf. Wie einst Angela Merkel verlassen bis heute viele Junge die brandenburgische Kleinstadt. Auf Spurensuche

„Angela kann uns mit Werbung helfen. Sie kann Gäste nach Templin holen“

VON KIRSTEN KÜPPERS

Da, wo die Häuser aufhören und die Maisfelder anfangen, ist Angela Merkel aufgewachsen. Die Straße führt geradeaus weiter, rechts steht der Mais, links ein Zaun vor hoch gewachsenen Blumen, vor ein paar Ställen und Backsteingebäuden, die zu einer kirchlichen Behinderteneinrichtung gehören. Weiter hinten gibt es ein grün und gelb gestrichenes Haus: Da hat Angela Merkel gewohnt. Als Kind, als Teenager. Irgendwann nach der Oberschule ist sie dann weggezogen.

Es ist ein nettes altes Haus am Stadtrand. Aber die Templiner haben kein Schild an die Hauswand gehängt, sie haben kein Denkmal aufgestellt und die Straße nicht umbenannt. Überhaupt kann man die Leute in Templin nach Angela Merkel fragen, dann antwortet zum Beispiel ein Mann mit Bart und Jeanshosen: „Kann sein, dass die hier mal durchgestapft ist.“

Das ist so die Stimmung in Templin, dem Heimatort von Angela Merkel, der neuen deutschen Kanzlerin. Templin ist eine hübsche kleine Stadt mit 14.000 Einwohnern. Es gibt einen Stadtkern aus dem Mittelalter und eine vollständig erhaltene Stadtmauer drumherum. Außerdem liegt Templin inmitten einer wunderbaren Seenlandschaft. Die warmen Salzquellen im Boden haben dem Ort vor ein paar Jahren den Status einer Kurstadt eingebracht. Nach der Wende bauten die Templiner ein riesiges Wellness-Bad vor die Stadt. Das sind die guten Seiten.

Templin liegt in der Uckermark. in einer herrlichen Gegend, aus der alle abwandern, weil es hier keine Arbeit gibt. Der Linienbus, der zur Wellness-Therme fährt, passiert auf dem Rückweg vernachlässigte Plattenbauten und ein ehemaliges FDGB-Erholungsheim. Die Seitenstraßen enden als Sandwege, in den Vorgärten laufen Hühner durch die Rabatten. Der Bus überholt einen Mann mit Fahrrad. Auf den Gepäckträger des Fahrrads hat der Mann einen Sack Kartoffeln geschnallt. In den Wiesen reifen die Äpfel. Der Busfahrer hört eine Roland-Kaiser-Kassette. Er trommelt mit den Fingern zur Musik aufs Lenkrad. Sonst passiert nichts. Angela Merkel ist nicht mehr da. Vielleicht muss man hier weg, um etwas zu werden.

Ulrich Schoeneich ist der Bürgermeister von Templin. Er meint: „Nur der Tourismus kann uns helfen.“ Der Bürgermeister ist ein stiller Mann, der in einem karierten Hemd in seinem schmucklosen Büro sitzt und dem man ansieht, dass er schwer trägt am Schicksal seiner Stadt. Manchmal scheint es fast, als sacke er in sich zusammen, so als säße er allein in seinem Zimmer. Dann berappelt er sich wieder.

Angela Merkel ist die einzige Prominente, die Templin zu bieten hat. Der Bürgermeister kann sie immerhin beim Vornamen nennen. Er kennt die Familie schon lange, und wenn er „Angela“ sagt, hört sich das tatsächlich aufrichtiger an als die plumpe Vertraulichkeit von „Angie“, dem Kürzel, das sich irgendwelche Witzbolde von der Jungen Union ausgedacht haben und gegen das sich die Kanzlerin nicht mehr wehren kann. „Angela“, findet der Bürgermeister also, „Angela kann uns helfen, indem sie Werbung für uns macht. Sie kann Gäste nach Templin holen.“

Ein bisschen ist das schon passiert. Volker Rühe war vor ein paar Jahren zu Besuch und Rita Süßmuth. Es hat nicht wirklich gereicht. Im Café am Markt kostet eine Spargelsuppe immer noch 1,55 Euro, und es gibt in Templin Übernachtungsmöglichkeiten ab 13 Euro.

Auch die vielen Journalisten haben daran nichts geändert, die in den vergangenen Wochen aus der ganzen Welt gekommen sind, um zu sehen, was das für ein Ort ist, aus dem die erste deutsche Kanzlerin stammt. „Die Amerikaner haben nicht verstanden, warum es keine Souvenirshops mit Angela-Merkel-T-Shirts gibt“, erzählt der Bürgermeister. Er guckt aus dem Fenster, die Sonne scheint ihm ins Gesicht, er lacht. „Und keinen Bäcker, der Merkel-Brötchen verkauft.“

Ja, warum eigentlich nicht? Ulrich Schoeneich zieht die Augenbrauen hoch. „Wir haben Stadtmauerbrötchen“, sagt er. Und weil er nach einer kurzen Weile merkt, dass das als Antwort nicht genügt, brummt er hinterher: „Wenn der Bedarf da ist, machen wir das. Wenn es Bedarf gibt, dann fangen wir auch mit einer Angela-Merkel-Stadtführung an.“ Er macht eine Pause. Dann zählt er auf: Man könnte die Leute zum Wohnhaus führen, zur Grundschule und zur Oberschule. Das wären so die Stationen.

Mehr ist im Moment nicht zu erwarten. Das Haus, in dem die Eltern jetzt leben, darf nicht vorkommen, weil Angela Merkels Eltern nicht wollen, dass andauernd neugierige Menschengruppen an ihren Fenstern vorbeilaufen. Ihre Tochter ist jetzt so weit oben, dass sie fallen kann, die Eltern machen sich Sorgen. Und das Ferienhäuschen, in dem Angela Merkel manchmal ihre Wochenenden verbringt, liegt zehn Kilometer entfernt.

Es ist nicht viel von Angela Merkel übrig geblieben in Templin. Es ist nicht klar, ob es für eine Stadtführung eigentlich reicht.

Draußen an der Bushaltestelle sagt eine alte Frau: „Die Merkel ist ein nettes Mädchen gewesen. Eher unauffällig.“ Die Freundin der alten Frau, die neben ihr steht, zuckt nur mit den Schultern und guckt weg. Es macht nicht den Eindruck, dass die Einwohner von Templin besonders stolz sind auf Angela Merkel. Die CDU ist hier nur die drittstärkste Partei. Die Menschen in Templin wählen lieber die SPD oder die Linkspartei.

Es drängt sich die Frage auf, was Angela Merkel überhaupt noch gemeinsam hat mit dem Ort, aus dem sie stammt. Der Bürgermeister erklärt: „Die Uckermärker sind stur. Wir haben unsere Autos immer im See gewaschen, sagen sie, warum sollen wir das nicht mehr tun. So sind die Uckermärker.“ Es kann sein, dass diese stabile Geisteshaltung Angela Merkel auf ihrem Lebensweg geholfen hat. Vielleicht auch nicht.

Ulrich Schoeneich schaut wieder zum Fenster. Hinter dem Templiner Rathaus liegt der Stadtsee. Gerade haben sie für fünf Millionen Euro eine Schleuse an einem der angrenzenden Kanäle saniert. Der Stadtsee ist damit an das Netz der Bundeswasserstraßen angebunden, erzählt der Bürgermeister. Er verschränkt die Arme vor der Brust, weil nun ein Vorschlag kommt, der groß genug ist für ein wenig Selbstbewusstsein: Die Bundeskanzlerin könne jetzt theoretisch in Berlin in ein Boot steigen und über die Havel und verschiedene Kanäle bis an das Templiner Rathaus heranfahren, meint der Bürgermeister. Es ist nicht sicher, ob das jemals passiert.