Auf Spurensuche in der alten Heimat

Die Kunstmalerin Takako Takeuchi wurde auf Sachalin geboren, als die Insel zu Japan gehörte. 60 Jahre später hat sie zum ersten Mal mehrere Tage ihren Geburtsort im heutigen Russland besucht und damit eine „Lebensaufgabe“ erfüllt

KORSAKOW/WAKKANAI taz ■ Im Hafen von Korsakow turnen drahtige Kinder auf schiefen Betonpfeilern herum. Nebenan das Skelett einer früheren Fabrik und ein Schiffsfriedhof. Rostige Fischerboote ruhen zu Dutzenden im Meer. Das Sonnenlicht reflektiert auf den Wellen. Die neu gestrichene japanische Passagierfähre vibriert, Männer in weißen Helmen und hellgrünen Overalls kurbeln an Seilwinden.

Takako Takeuchi ist an Deck und beobachtet die Arbeiter. Bald wird die „Soja Eins“ den Hafen des russischen Korsakow verlassen. Richtung Wakkanai, zum nördlichsten Zipfels Japans. Die gleiche Reise machte Takeuchi am 20. August 1945, nur einige Monate alt. In Europa war der Zweite Weltkrieg vorbei, im Fernen Osten tobten die Kämpfe weiter. Sowjetische Truppen eroberten die Südhälfte Sachalins zurück, die sie 1905 an Japan verloren hatten. Tausende Japaner flüchteten. Überstürzt verließen die drei Takeuchi-Frauen mit hunderten anderen Sachalin. Einige flohen in Schlafanzügen, andere ohne Schuhe. Nicht alle überlebten die Überfahrt: Mehrere Dampfer mit Zivilisten wurden von sowjetischen Torpedos versenkt.

„Ich musste Sachalin wiedersehen – es war meine Lebensaufgabe“, sagt Takako Takeuchi. Die 60-jährige Kunstmalerin ist sorgfältig geschminkt, trägt eine blauviolette getönte Brille und Hautecouture. „Sachalin ist der Ort, wo ich auf die Welt kam und der Ort, wo meine Familie alles verloren hat.“ Großvater und Onkel hätten weiße Flaggen gehisst, als die Russen anrückten. „Sie wurden erschossen.“ Beim russischen Vorstoß kamen gemäß japanischen Quellen mehrere tausend Zivilsten um. Danach herrschte Kalter Krieg – Sachalin wurde militärisches Sperrgebiet und ein Standort in Stalins Lagersystem, dem Gulag.

Fünf Tage suchten Takeuchi und ihre Tochter auf Sachalin Spuren der Vergangenheit. Die Schule im früheren Wohnort Cholmsk existiert nicht mehr. Wo Takeuchis Haus stand, fanden die beiden Frauen Plattenbauten. Den Ort, an dem ihre Angehörigen ums Leben kamen und wo sie begraben sind, haben die Takeuchis bis heute nicht erfahren. „Ich bin traurig und etwas wütend“, sagt Takeuchi bei der Abfahrt in Korsakow.

Die japanische Flagge der „Soja Eins“ flattert. Takeuchi streicht sich Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Nicht gegenüber der russischen Bevölkerung, nur in mir drin.“ Die meisten japanischen Passagiere sind, wie Takako Takeuchi, auf Sachalin geboren. Auf ihrer Spurensuche erfreuten sie sich an den wenigen Bauten, die aus japanischer Zeit geblieben sind: eine verfallene Papierfabrik, eine Bank und das Regionalmuseum in der Hauptstadt Juschno-Sachalinsk – bis 1945 Sitz der japanischen Verwaltung.

Auf der „Soja Eins“ bleiben Russen und Japaner weitgehend unter sich. Rechts japanische Touristen, die auf Tatamimatten dösen. Links russische Geschäftsleute und Sportler, die gebannt den Actionfilm auf dem Bildschirm verfolgen. Nach zwei Stunden Fahrt durch das Meer von Ochotsk verteilt die Crew japanische Häppchen.

Die Takeuchis trafen auf Sachalin Japanerinnen, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf Sachalin geblieben sind. Die Begegnung mit den alten Frauen habe sie berührt, erzählt Takeuchi. „Eine konnte kaum mehr Japanisch reden, aber sie sang für uns.“ Und Begegnungen mit der russischen Bevölkerung? Sie habe sich mit der Übersetzerin angefreundet, antwortet Mutter Takeuchi. Skeptischer klingt Yukiko, die Tochter. „Die meisten Russen haben uns zwar sehr freundlich behandelt“, sagt sie. „Aber was denken sie wirklich?“

Die Annäherung zwischen Russland und Japan stößt an Grenzen, wenn die Diskussion um das „korrekte Geschichtsbild“ einsetzt. War es legitim, Sachalin zu besetzen oder akzeptiert Takako Takeuchi ein Fehlverhalten Japans? „Sachalin gehörte bereits in der Edo-Periode zu Japan“, meint sie. Russland habe die Insel als Strafkolonie missbraucht. Tokio bezichtigt sie, das Leiden der aus Sachalin Vertriebenen unter den Teppich gekehrt zu haben.

Will die Malerin aus Tokio ihrem Geburtsort noch einen Besuch abstatten? „Ich möchte Sachalins Landschaften malen.“ Ob aus der Erinnerung oder bei einem neuen Besuch, lässt Takeuchi offen. MARCO KAUFFMANN