Obdachlosigkeit: Draußen ist es auch im Sommer kalt
Erstmals ist der Hilfsbus der Stadtmission in diesem Jahr zusätzlich im Sommer unterwegs. Die Mitarbeiter versuchen, Kontakte aus dem Winter zu erhalten und Vertrauen aufzubauen.
Es hat zu dämmern begonnen am Bahnhof Zoo. Hinter den S-Bahnbögen läuten die Glocken der Gedächtniskirche. Um 20 Uhr, wenn die meisten Berliner schon Feierabend haben, beginnt der Arbeitstag für Artur Darga und Jana Grösche erst. Die beiden arbeiten für die Mobile Sommerhilfe, ein Projekt der Berliner Stadtmission. Fünfmal die Woche fahren sie mit einem Kleinbus nachts quer durch die Stadt auf der Suche nach Obdachlosen, die Hilfe benötigen: etwas Essen, Wasser, eine warme Decke, oder auch nur ein bisschen Gesellschaft und Trost. Seit 15 Jahren ist das Projekt etabliert - bisher war es allerdings auf den Winter beschränkt. In diesem Jahr wurde es erstmals auf die Sommermonate ausgeweitet. "Weil sich die Not der Obdachlosen nicht nach dem Kalender oder den Jahreszeiten richtet", erklärt Darga. "Wir bauen zu den Menschen auf der Straße eine Bindung auf, versuchen ihnen zu helfen, nicht nur materiell." Und Grösche ergänzt: "Dieser Kontakt darf auch im Sommer nicht abreißen."
Die 18-jährige Schülerin begleitet die Mobile Sommerhilfe immer donnerstags - ehrenamtlich. Rein äußerlich würde man nicht annehmen, dass sie dem Umgang mit Obdachlosen gewachsen ist: Jana Grösche ist zierlich, wirkt eher brav mit ihren langen blonden Haare und der sportlich-hippen Kleidung. "Aber Jana ist ganz schön tough", verkündet Darga schmunzelnd und seine Kollegin lächelt verlegen. Hauptberuflich holt sie gerade ihr Fachabi nach, mit Schwerpunkt Sozialwesen.
An diesem Abend sind die beiden noch gar nicht losgefahren, da haben sie schon zu tun. "Wir müssen Juri ins Krankenhaus bringen", sagt Darga und klingt dabei alarmiert. Der Mann mit dem schmuddeligen roten Basecap und dem leicht aufgedunsenem Gesicht ist von sich aus zur Stadtmission am Zoo gekommen, Darga setzt ihn auf die Rückbank des dunkelblauen Kleinbusses. Grösche redet beruhigend auf ihn ein, spricht in langsamen, klaren Sätzen. Manchmal nimmt sie auch die Hände zur Hilfe, denn Juri kommt aus Lettland und spricht wenig Deutsch.
Darga erklärt den Grund des Krankenhausbesuchs. "Es ist sein Herz", meint der 47-Jährige, während er den Wagen zügig Richtung Mitte lenkt. "Schon gestern ist Juri auf der Straße umgekippt, sie haben ihn in ein Krankenhaus gebracht. Heute sieht er nicht besser aus." Kurzes Schweigen, dann fügt er hinzu: "Ich kenne Juri schon länger. Heute mache ich mir ernsthafte Sorgen."
Nach Schätzungen der Stadtmission leben in Berlin zwischen 8.000 und 10.000 Wohnungslose.
Viele leiden unter einer "Mehrfachbeeinträchtigung": Rund 75 Prozent sind abhängig von Suchtmitteln, 60 Prozent psychisch beeinträchtigt. Nur etwa 20 Prozent der Hilfesuchenden kann man "relativ leicht" wieder in ein selbstverantwortliches Leben zurückführen, schätzt die Stadtmission - auch wenn dafür viele Zwischenetappen wie Entzug oder Wohnhilfen nötig sind.
Die Notaufnahme des Bundeswehrkrankenhauses ist Dargas und Grösches erste Station an diesem Abend. Das Wartezimmer ist voll. Die beiden begleiten Juri zur Anmeldung und helfen ihm, die Formulare auszufüllen. Schließlich geben sie ihm die Telefonnummer der Stadtmission. "Wenn du etwas brauchst, rufst du an, okay?" Grösche gibt ihm noch einen liebevollen Knuff in die Seite, dann lassen sie ihn mit den anderen Wartenden zurück.
Draußen beraten Grösche und Darga, wen sie an diesem Abend besuchen sollen. "Lass uns zu Viola fahren", schlägt die 18-Jährige vor. Im Auto beginnt sie ein wenig zu erzählen. "Viola ist die Coolste von allen", sagt sie lachend und man merkt, dass sie sich auf ein Wiedersehen freut. "Eine klasse Frau!" Weiter kommt sie nicht. Mitten auf der Friedrichstraße bremst Darga plötzlich und lenkt sein Auto auf den Fahrbahnrand. "Luca", murmelt er und deutet auf einen großen, hageren Mann mit geschminktem Gesicht und buntem Kostüm. "Er ist Straßenkünstler, macht Pantomime", berichtet Darga. "Luca ist auch obdachlos. Ich fahre zwar nie extra zu ihm, aber wenn ich hier vorbeikomme und er da ist, halte ich an und versorge ihn mit Essen."
Als Luca den Kleinbus erkennt, lächelt er. Dann begrüßt er Darga und Grösche wie zwei alte Freunde. Grösche holt die großen Plastikboxen mit den beschmierten Broten aus dem Kofferraum. "Magst du?", fragt sie. Luca nimmt gleich drei davon. Auch Äpfel gibt es, Schokocroissants und Kaffee. Vieles davon sind Spenden.
Während Luca seelig an seinem Brot kaut, gibt er hin und wieder glucksende Laute von sich. Und wenn er redet, gestikuliert er wild und wirkt, als käme er auch im wirklichen Leben nicht aus seiner Clown-Rolle heraus. Als sei seine fröhliche Maske ein Mittel, um ein trauriges Leben zu kaschieren.
Die Fahrt zu Viola wird fortgesetzt, Grösche und Darga unterhalten sich weiter über die Wohnungslose aus Chemnitz. Viola sei eine Verkleidungskünstlerin. "Aber auch ein Messie, sie hebt wirklich alles auf", erklärt Darga. Grösche nickt. "Mittlerweile hat sie so viel Zeug, dass sie immer mit mindestens fünf vollen Einkaufsagen unterwegs ist." Darga erzählt, wie er einmal versucht hätte, ihre vielen Sachen zu sortieren und einiges davon zu entsorgen. Da sei Viola ausgerastet. "Sie hat rumgeschrieen, angefangen zu weinen und gesagt, dann könne sie sich ja gleich einen Strick nehmen."
Viola wohnt in der Nähe des S-Bahnhofs Storkower Straße auf einem verwilderten Grundstück. An diesem Abend treffen Grösche und Darga sie in Begleitung eines Freundes und ihrer zwei Hunde vor einem Supermarkt. "Oh Gott, wie sie heute wieder aussieht! Ich hätte sie fast nicht erkannt", ruft Grösche, als Darga das Auto am Straßenrand parkt. Ungläubig reißt sie die Augen auf. Viola ist groß und schlank. Sie trägt eine rothaarige Perrücke und ein schwarzes, langes Flatterkleid, dazu silberfarbene Ballhandschuhe. Als sie die Mobile Sommerhilfe erkennt, kreischt sie auf und wirft sich erst Grösche, dann Darga um den Hals. "Viola ist kein Suchtie. Sie trinkt nicht, nimmt keine Drogen. Sie ist einfach ein bisschen psychisch gestört", berichtet Darga später. Bisher hätten sie es noch nicht geschafft, sie von einer Therapie zu überzeugen.
An diesem Abend ist Viola guter Laune und fühlt sich sichtlich wohl in ihrem neuen Outfit, das sie von allen Seiten präsentiert. Sie dreht sich wild im Kreis, ihr Kleid bläht sich auf wie ein Ballon und flattert im Wind. Nach einem Kaffee und der Essensausgabe verabschieden sich Grösche und Darga. "Heute haben wir nicht viel über ernste Themen gesprochen", stellt Darga fest. "Darüber, wie es Viola wirklich geht und wie wir ihr helfen können. Aber das kann man auch nicht immer. Es ist ein langer Prozess und es muss sich erst Vertrauen aufbauen." Irgendwann, so hofft er, komme vielleicht auch von ihr ein Schritt in die richtige Richtung. Dann fährt er weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Schuldenbremsen-Dogma bröckelt
Auch Merz braucht Geld
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“