BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Kultiviert bis auf die Blutwurst

Zum Glück musste ich nicht lernen, mit Messer und Gabel zu essen. Aber der Westen überrascht mich noch immer

Was mussten wir unwissenden und unkultivierten Ostler nicht alles lernen nach dem Mauerfall: dass man zur Begrüßung nicht unbedingt die Hand des Gegenübers ergreift, dass die Frage „Wie geht’s?“ nicht wirklich einer Antwort bedarf, dass man sich nicht zum Frühstücken, sondern zum Brunchen trifft. Zum Glück haben wir auch mit Messer und Gabel gegessen und so Sachen wie Schwimmen beigebracht bekommen. Nicht auszudenken, wenn wir das auch noch hätten lernen müssen.

Obwohl ich im Westen nicht verhungere und mich über Wasser halten kann, heißt das nicht, dass ich über alles Bescheid weiß. Noch immer gibt es Unbekanntes zu entdecken. Ich will ein Beispiel nennen, bei dem ich mich nicht mit Ruhm bekleckere. Aber es zeigt aufs Trefflichste, was ich meine.

Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal in der Bretagne. Als ich in einer hübschen Bucht am Atlantik Boote sah, die direkt am Strand ankerten, wunderte ich mich sehr. Ich schrieb das dem französischen Laisser-faire zu und brach zum Muschelsammeln auf. Nach wenigen Minuten wunderte ich mich wieder. Aus dem Sand ragten riesige Felsen hervor. Nach anderthalb Stunden machte ich mich auf den Rückweg. Als ich mich umdrehte, fielen mir die Muscheln aus der Hand, die ich gesammelt hatte. Die Felsen, die mir vorher im Weg standen, waren auf einmal verschwunden. Die Boote, die im Sand geankert hatten, schaukelten lustig auf den Wellen. So blöd wie in diesem Moment hab ich noch nie in meinem Leben aus der Wäsche geguckt. Es war die erste Flut meines Lebens.

Mit einem Sprint und einem Sprung rettete ich mich auf eine Kaimauer. Während ich erschrocken dem Ansteigen der Wassermassen zusah, verfluchte ich die harmlose Ostsee. Weil dort der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser so gering ist, dass man die Gezeiten in der Pfeife rauchen kann, zog es mich auf eine Art in die weite Welt hinaus, die gefährlich war. Ich hätte draufgehen können. Trotzdem behielt ich die Geschichte jahrelang für mich. Ich schämte mich für meine Ahnungslosigkeit.

Doch neulich hab ich gelernt, dass auch Westler mit einer Ahnungslosigkeit ausgestattet sein können, die ihresgleichen sucht. Es war auf einer Lesung an einem ungewöhnlichen Ort: Im Schlachtraum eines Fleischers in Berlin-Neukölln wurde Blutwurst zur Lektüre einer Autopsiegeschichte von Stephen King gereicht. Der Metzger stammt aus Thüringen und wurde mehrmals in Frankreich beim größten Blutwurstwettbewerb der Welt von der „Confrérie des Chevaliers du Goûte Boudin“ zum „Blutwurstritter“ geschlagen. Den Fleischer und seine Wurst wollte ich mir schon lange mal aus der Nähe angucken.

Während ich die leckere Blutwurst in mich hineinstopfte, beobachtete mich ein Mann aus dem Publikum ununterbrochen. Nach der Lesung nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte höflich: „Gehst du auch zu den anderen Lesungen?“ Weil ich nichts von unnötigen Umwegen halte, antwortete ich: „Das weiß ich doch jetzt noch nicht. Aber von mir aus können wir einen Wein trinken.“

So lernte ich Mathias kennen, 41 Jahre wie ich, aufgewachsen jedoch im tiefsten Westen. Ob Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz, weiß ich nicht mehr. Auf die Blutwurst folgte viel Wein. Es war so viel, dass er von einem Kapitel seines Lebens erzählte, über das er bisher den Mantel des Schweigens gebreitet hatte: In den 80er-Jahren wollte er im Westen den Sozialismus etablieren und fuhr zu diesem Zweck mit der „Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend“ zu einer Schulung in die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“.

Natürlich habe ich mich über diese Form der Reisefreiheit gnadenlos lustig gemacht. Weil er aber über meine Ahnungslosigkeit am Atlantik nicht einmal die Nase gerümpft hatte, erteilte ich ihm bei kubanischem Rum die Absolution. Am liebsten hätte er sich mit einem Bruderkuss verabschiedet. Ich beließ es bei einer brüderlichen Umarmung. Ich hätte ihm auch die Hand geben können. Aber das macht man im Westen ja nicht.

Fragen zum Bruderkuss? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE