Neues Buch von Günter Grass: Jakob starb beim F
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Fabulant: Günter Grass neues Buch "Grimms Wörter" ist eine verkappte Biografie. Die Brüder Grimm bleiben blass.
Der Online-Grimm lässt auf etiam für Lohn den etkum, also Eifer, auch Eifersucht, folgen; weder von Etikett noch von Etikette weiß er was. Aber er kennt den Schwindel und diesen nicht nur in der Bedeutung von Schwund, sondern bereits als Behauptung, die irrig oder unfundiert ist. Wenn es im Vorschautext zu "Grimms Wörter" heißt, Grass erzähle das Leben der Brüder nach, dann ist das, streng genommen, Etikettenschwindel, legt er doch letztlich nichts anderes als den dritten Teil seiner Autobiografie vor. So, wie er sich in der "Zwiebel" zwischen Ich und Er verlor, in der "Box" Regie über seine Kinderschar führte, holt er sich diesmal die Grimms als Stichwortgeber und -nehmer ins Boot, in der Schlussszene gar bildbildlich. Da schippern sie dahin, drei Mann in einem Boot, wobei die Worte meist zu einem führen - und der muss die Ruderei bezahlen.
Damit laufen wir jedoch bereits in den Zielhafen ein. Der Anfang ist mal wieder ein doppelter, wie man ihn schon aus der "Blechtrommel" kennt. "Von A wie Anfang bis Z wie Zettelkram. Wörter von altersher", geht es einerseits los, um im nächsten Absatz erneut anzuheben: "Es waren einmal zwei Brüder, die Jacob und Wilhelm hießen." Damit ist alles angedeutet, das forsche Drauflos der Grimmschen Wörtersuche ebenso wie die mit Buchstaben getitelten Kapitel und das Märchen, dem sich Grass in etlichen Werken verpflichtet zeigte.
D wie Durchhänger
In den ersten drei Kapiteln, dem ABC, klappt das bestens. Da legt Grass mit einer ungeheuren Lust an der Sprache los, will mit den Grimms "Lautverschiebungen nachschmecken, verdeckten Doppelsinn entblößen, Entschlafenes wachküssen, von altehrwürdigen Sprachdenkmälern den Staub wegwedeln". Da alliteriert und assoziiert er, dass es ansteckend ist. Und egal welche Frage dem Spieglein gestellt wird, drängt sich als Antwort auf: Aber jener, hinter den sieben Türmen, der ist noch … Bis dann das D kommt und mit ihm ein Durchhänger, von dem sich auch das E nicht erholt. Ab F franst der Text über die drei Restlettern K, U und Z aus. Die einzelnen Buchstaben purzeln nun durcheinander, auch in den eingestreuten Gedichten.
Jetzt, da es streckenweise ausbleibt, zeigt sich, wie streng komponiert das scheinbar spielerische Baden in der Wörterflut war. Stattdessen gibt es Redundanzen, teilweise bis hin zur Wortidentität. Eingebettet in den bekannten Grass-Ton, dem manch Formulierung allzu anhänglich bleibt, gibt man sich wiederholt "cool", hört man mehrfach, was Oskar mit dem Däumling verbindet.
Wie siehts nun mit den Grimms aus? Sicher, die Eckpfeiler ihres Lebens fehlen nicht: Jacob, Wilhelm und fünf weitere Professoren protestieren 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung. Die Göttinger Sieben werden entlassen, Jacob und zwei andere des Landes verwiesen. Bald darauf ergeht an die beiden Brüder das Angebot, ein Wörterbuch der deutschen Sprache zu kompilieren, es folgt der Umzug nach Berlin, wo sie in einer WG mit Dorothea, Wilhelms Frau, zusammenleben. Hier sterben sie über der Arbeit, Wilhelm zuerst, beim D, Jacob beim F.
Die impulsive Bettine
Als Zeugen ihrer Zeit bleiben die Grimms jedoch seltsam blass. Bettine von Arnim etwa tritt wesentlich plastischer hervor, impulsiv und couragiert, nach Grass mitunter auch ziemlich nervend. Den Spracharchäologen Jacob lernen wir zwar als reisefreudig und eigenbrötlerisch kennen, den Märchensammler Wilhelm als geselligen und kaufmännisch versierten Mann, aber das wars auch schon. In ihrer Epoche verankert sind sie kaum; der Romantik gerecht wird das nicht. Das liegt nicht nur daran, dass Grass die Vita der Grimms zunehmend als Totengespräch gestaltet und dabei gern auf sich kommt. Es ist auch keine Frage der Quantität. Böll kriegt ein rein alliterierendes Miniporträt, das treffender nicht sein könnte: Befehlsverweigerung, Beichte, Bild-Zeitung. Nein, eher dürfte der Grund sein, dass die beiden Jahrhunderte nicht konturiert gegeneinander geschnitten werden. Grass soll den Grimms ja gar nicht soufflieren, dass man heute dort, wo man einst "das Werk deutscher Dichtkunst von A bis Z flöhte, so daß aus den Zettelkästen ein vielstimmiges Wispern hörbar wurde", googeln kann.
Das Assoziieren geht nach hinten los, wenn es Unterschiede verwischt. Stichwort Einheit. Jacob verficht sie 1848, Grass warnt 1990 davor. Das liest sich dann so: Grimm schmerzte die Erinnerung an die "elend langen, die deutsche Einheit vergebens beschwörenden Reden und ermüdenden Debatten; wie ja auch ich mich an diesem Erbgut zu reiben begann, als im Jahr neunzig das zweigeteilte Deutschland eilfertig, was hieß, durch bloßen Anschluß auf eine Einheit eingeschworen wurde". Klar so weit?
In der "Zwiebel" von 2006 hatte Grass behauptet, es fehle an Lust, weiter von sich zu erzählen. Seitdem erschienen die "Box" über die Patchwork-Familie und nun "Grimms Wörter", gleichsam ein Patchwork-Text. Der überrascht mit einem kraftvollen Auftakt, verliert sich dann aber in - teils zäher - Plauderei. Schade.
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