Reptilien haben immer Recht

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Die Revolution von 1830: Die Pariser bauten Barrikaden, wahrscheinlich sonnten sie sich darauf

Seit gestern ist Angela Merkel erste deutsche Bundeskanzlerin, und vor genau einer Woche feierte Charles Darwins Schildkröte Geburtstag. Darwins Schildkröte heißt Harriet, was ein kongenialer Name für so eine Urkröte ist, und wurde 175! Darwin ist tot, Harriet lebt und Angela Merkel wird Kanzlerin. Das also ist die Evolution. Survival of the fittest. Und das ist noch nicht alles. Nicht nur Darwin ist tot, seine Lehre ist auch bald tot. In den USA glauben viele Menschen doch eher an den aus Lehm geformten Adam und die göttliche Erste-Hilfe-Mund-zu-Mund-Beatmung sowie das, was man aus Adams Rippe machen kann. Der Evolutionsgedanke verschwindet schon aus amerikanischen Biologiebüchern. Natürlich, kann man sagen, bei diesen Nachfahren der protestantischen Sektierer ist das schon möglich, schließlich sind sie auch deshalb einst ausgewandert, weil ihr religiöser Fundamentalismus Alteuropa nervte und insbesondere die Aufklärer. Das erklärt zwar viel, aber nicht alles. Der thüringische Ministerpräsident Althaus persönlich hofiert schon den deutschen Parallelglauben – Schöpfung statt Evolution! – und wünscht ihm viel Erfolg in unseren Schulen, auch im Biologieunterricht. Armer Darwin. Du warst ein verhältnismäßig spätes Ergebnis der Evolution, deine Schildkröte ist ein sehr frühes – wahrscheinlich hast du das Urvieh belächelt, als du es mit nach England brachtest, aber nun belächelt es dich. Wieso sehen diese Reptilien immer aus, als ob sie viel mehr wissen als wir und über uns lachen? Und Harriet erst! Darwins Schildkröte schaute in die Kameras wie ein Transzendental-Philosoph und hatte die ganze Verachtung vieler Millionen Jahre Evolutionsvorsprung im Blick. Wahrscheinlich kann sie einfach keine Lebewesen ernst nehmen, die es nicht einmal schaffen, 100 zu werden. Darwin wurde gerade mal 71.

Wir müssen noch einmal über die Evolution nachdenken.

Der europäische Mensch benutzte in den letzten drei Jahrhunderten bei seinem Gang durch die Geschichte eine bemerkenswerte Gehhilfe. Das war der Fortschrittsgedanke. Heute muss man schon eine Bank sein, um den Fortschrittsgedanken unmittelbar plausibel zu finden. Aber ist nicht der Evolutionsgedanke auch eine Art Fortschrittsglaube? Sogar ein ungemein suggestiver Fortschrittsglaube, so ganz jenseits des Weltanschaulich-Bekenntnishaften, nur verbürgt durch Erkenntnis. Höher organisierte Lebensformen wie beispielsweise Charles Darwin oder Angela Merkel gehen in einer unendlich langen Entwicklung aus viel ursprünglicheren Organismen hervor. Auch wenn man das nicht direkt sieht, so stammt Darwin doch in gewissem Sinne von seiner Schildkröte ab. Wer ist also der Überlegene, Darwin oder die Kröte?

Weisheit hat immer etwas mit dem Alter zu tun. Deshalb hat sich Heinrich Heine während seiner Italienreise sehr oft mit einem alten, besonders klugen toskanischen Eidechs unterhalten und zog danach das Fazit: „Ich weiß jetzt mehr als Schelling und Hegel.“ Er erzählte dem Eidechs, wie „in der gelehrten Karawanserei zu Berlin die Kamele sich sammeln um den Brunnen der Hegelschen Weisheit, sich die kostbaren Schläuche aufladen lassen und damit weiterziehen durch die märk’sche Sandwüste.“ Der alte Eidechs hörte das nachsichtig an, versicherte dann aber, dass kein Mensch denken könne, weder Schelling noch Hegel, und dass es nur eine einzige wahre Philosophie gibt, „und diese steht, in ewigen Hieroglyphen, auf meinem eigenen Schwanze“.

Heines Eidechs und Darwins Schildkröte. Die Reptilien haben immer Recht. Es ist alles eine Frage der Zeitgenossenschaft. Die brennenden Autos als Fackeln von Paris, die dann ganz Frankreich in Brand setzten, hätten uns nicht halb so erschreckt, wenn sie in irgendwelchen Dritte-Welt-Vorstädten loderten. Das Skandalon in unseren auf uns selbst gerichteten Augen ist der Ort. Mit diesem Anblick einer (west)europäischen Stadt haben wir nicht gerechnet. Noch nicht. Harriet würde die brennenden Ränder von Paris ganz anders sehen. Sie würde das Paris ihrer Jugend wiedererkennen. Schließlich brannte es fast das ganze 19. Jahrhundert lang. Es war die Hauptstadt der Revolutionen und Revolten.

Darwins Schildkröte ist doch ein bisschen zu jung, um die Mutter aller neueren Revolutionen noch persönlich kennen gelernt zu haben. Die Französische Revolution 1789 hat sie definitiv verpasst. Außerdem wurde sie etwas abseits auf den Galapagosinseln geboren, und zwar 1830. Da war schon wieder Revolution in Paris. Wie sich die Deutschen von den Franzosen unterscheiden, begreift man am besten anhand der Jahreszeit ihrer Revolutionen. Die Deutschen machen ihre Revolutionen am liebsten im November, die Franzosen sind ein viel anspruchsvolleres Volk, sie haben noch nie eine Revolution begonnen, wenn es regnete, ihre Revolutionen fanden grundsätzlich im Sommer statt. Und zur Julirevolution 1830, in Harriets Geburtsjahr, waren es in Paris über dreißig Grad. Harriet hätte sich wohl gefühlt im revolutionären Paris. Die Revolution von 1830 war eine der schönsten Revolutionen überhaupt, die Pariser waren bei der Hitze zu träge zu schießen. Zwar bauten sie ein paar Barrikaden, aber wahrscheinlich sonnten sie sich darauf. Trotzdem hatte diese Revolution durchschlagenden Erfolg, denn sie ist die eigentliche Geburtsstunde des Kapitalismus in Frankreich. Von nun an herrschen die Bankiers!, rief Lafitte, der erste nachrevolutionäre Ministerpräsident, in kongenialer Erkenntnis der Lage, obwohl er als Ministerpräsident viel korrekter „Von nun an herrschen die Menschenrechte!“ hätte rufen sollen. Wir sehen, Darwins Schildkröte ist so alt wie der Kapitalismus selbst, dieses erste Wirtschaftssystem der menschlichen Geschichte, das nicht zugleich ein Sozialsystem war. Deshalb qualmte es auch bald wieder in Paris, erst 1848, dann 1871, da war die Pariser Kommune.

Charles Darwin ist tot, die Riesenschildkröte Harriet lebt und Angela Merkel wird Bundeskanzlerin

Wir haben das affektive Gedächtnis dieser Revolutionen verloren! Bis auf Heiner Geißler vielleicht. Das brennende Paris des 19. Jahrhunderts, diese Urgeschichte des Kapitalismus ist für uns nur noch eine historische Nachricht.

Hegel war entgegen der Ansicht des toskanischen Reptils doch ein Philosoph. Er hat die bürgerliche Gesellschaft als „geistiges Tierreich“ beschrieben, also als reinen Darwinismus, ein Spiel der Kräfte. Es besitzt nicht die Fähigkeit zur Eigennavigation, zur Untergangsvermeidung. Vielleicht beschreibt man uns am besten nicht mit der Evolutionstheorie, sondern mit Oswald Spengler. Von Spengler stammt die berüchtigte Kulturkreislauflehre, eine Art korrigierter, pessimistischer Darwinismus für Gesellschaftssysteme. Kreisläufe statt Evolution! Menschliche Gesellschaften werden geboren, reifen, blühen (manchmal) und gehen unter. Die Spätphase einer Hochkultur ist immer die Zivilisation. Dann stirbt sie. Die Spätphase verkörpern natürlich wir, schön, sehr zivilisiert, leider nicht sehr überlebensfähig. Jetzt ist auch klar, warum Harriet auf den Fotos so beunruhigend aussieht. Sie guckt wie eine Spenglerianerin. Wer von den beiden Novemberkindern wird Recht behalten – Harriet oder Angela?