Achse Tallinn–Berlin–Madrid

VON SABINE HERRE

Als Kanzlerkandidatin Angela Merkel Mitte Juli Paris besuchte, wurde viel über die zukünftige Außenpolitik einer schwarz-gelben Regierung spekuliert. Vom Ende der Achse Paris–Berlin–Moskau war die Rede, von einem besseren Verhältnis zu den kleineren EU-Staaten und vor allem zum Nachbarn Polen. Ja, einige sahen schon ein neues deutsch-britisch-französisches Führungstrio am Horizont auftauchen. Mit durchgreifenden Reformen vor allem in der Wirtschaft würden Merkel, Tony Blair und Nicolas Sarkozy, aussichtsreicher Kandidat für das Amt des französischen Staatspräsidenten, Europa wieder auf Vordermann bringen.

Vier Monate später ist alles anders. In Berlin regiert eine große Koalition. Blair ist während der britischen EU-Ratspräsidentschaft irgendwo im Kanal verschwunden. In Polen hat ein Brüssel wenig freundlich gesonnenes Zwillingspopulistenpaar die Macht übernommen, und Sarkozy hat sich nicht gerade als EU-Freund erwiesen. Die Erwartungen aber, die Europa an die neue deutsche Regierung hat, sie sind hoch. Seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vor sechs Monaten weiß niemand, wie es mit der EU nun weitergehen soll. Die „Denkpause“, die die 25 Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel in Juni der EU verordneten, ist unter Europaexperten inzwischen zu einem geflügelten Wortwitz geworden: Heißt „Denkpause“ Pause zum oder Pause vom Denken?

„Die Zukunft Europas hängt weitgehend von der Zukunft Deutschlands ab“, hatte Polens scheidender Präsident Aleksander Kwasńiewski in einem Interview gesagt. Und der britische Europaexperte William Wallace meint: „Deutschland ist aus der Sicht führender britischer Politiker die zentrale Macht in Europa. Eine kohärente deutsche Führung ist daher von wesentlicher Bedeutung für die EU.“ Doch wie kohärent kann und wird die Europapolitik der großen Koalition sein? Eine Spurensuche.

Die Personen. Klar ist inzwischen, wer die Außenpolitik der großen Koalition gestalten wird. Wobei als Erstes die Kontinuität der handelnden Politiker überrascht. Außenminister Frank-Walter Steinmeier bringt aus dem Kanzleramt den langjährigen Europaberater von Bundeskanzler Schröder, Reinhard Silberberg, mit ins Auswärtige Amt. Er wird dort den Posten des beamteten Staatssekretärs übernehmen. Staatsminister, wie die parlamentarischen Staatssekretäre im AA heißen, werden die beiden führenden Außenpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler und Günter Gloser. Erler, der gut russisch sprich, gilt als vorsichtiger Kritiker der Politik Putins. Europapolitiker Gloser hat auf diesem Feld bisher keine allzu tiefen Spuren hinterlassen, gilt unter Experten aber als „loyal“ und „kompetent“.

Neu in der außenpolitischen Führung der Bundesrepublik ist ausgerechnet der Berater im Kanzleramt. Mit Christoph Heusgen hat sich Angela Merkel einen europapolitischen Überzeugungstäter von Brüssel nach Berlin geholt. Der 50-jährige Heusgen war sechs Jahre lang Leiter des politischen Stabs von EU-Chefaußenpolitiker Javier Solana und in dieser Funktion der wichtigste Verfasser der Sicherheitsdoktrin der EU. Wie hoch das Ansehen des CDU-Mitglieds ist, zeigt sich daran, dass auch Kanzler Schröder daran dachte, ihn zu seinem Berater zu machen.

Dabei hätten sich jedoch schnell einige unterschiedliche Positionen gezeigt. In Brüssel wurde das enge Verhältnis, das Schröder zu Putin pflegte, kritisch gesehen, weil es vor allem die osteuropäischen EU-Mitglieder verunsicherte. Und auch einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat hält Heusgen nicht für das höchste aller Ziele und will stattdessen die Zusammenarbeit der EU-Staaten in diesem Gremium intensivieren. Was ihm prompt die Kritik von Gernot Erler eintrug: Es sei „schwer vorstellbar“, dass ein Beamter die Koalitionsvereinbarung zu diesem Thema „korrigiere“, sagte der Sozialdemokrat.

Die Konflikte. Hierin nun bereits einen Konflikt zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt zu sehen, ist sicher verfrüht. Sicher jedoch ist auch, dass Heusgen den Brüsseler Politikbetrieb um vieles besser kennt als Steinmeier und Co. Durch die Aufsplittung von EU-Kompetenzen zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium benötigt die deutsche EU-Politik zudem dringend Koordination und Führung. Diese Rolle könnte künftig Heusgen übernehmen.

Andererseits jedoch ist fraglich, in welchem Maße Merkel die europapolitischen Überzeugungen ihres neuen Beraters teilt. „Das Kosten-Nutzen-Denken in der deutschen Europapolitik ist unter Schröder immer größer geworden“, meint etwa Andreas Maurer von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Und dieses „Was bringt uns die EU?“ wird angesichts knapper Kassen sicher lauter werden. In einem Zeit-Interview hat die designierte Kanzlerin der Brüsseler Kommission geradezu die Berechtigung abgesprochen, europapolitische Initiativen zu starten. „Wer befindet darüber, ob wir jetzt eine Richtlinie brauchen zur Kennzeichnung von Lebensmitteln oder von zuckerhaltigen Süßigkeiten?, fragte Merkel kurz vor ihrer Wahl. Und bediente damit die plumpe Kritik an der vermeintlich allgegenwärtigen Brüsseler Bürokratie.

Die Verfassung. Seit den gescheiterten Verfassungsreferenden werden von Wissenschaftlern und Europapolitikern verschiedene Pläne zum Ausweg aus der Krise diskutiert. Während die einen den völligen Neuanfang, also die Formulierung einer neuen Verfassung, vorschlagen, plädieren andere dafür, einfach mal abzuwarten, wie sich die politische Gemengelage in Europa verändert.

Es gibt aber auch eine dritte Variante. Sie sieht vor, Einzelfragen der Verfassung, für die keine Ratifizierungen notwendig sind, schon jetzt umzusetzen. Dies betrifft vor allem die Außenpolitik der EU. Denn, so Heusgen in einem Beitrag für die Zeitschrift integration: Einerseits könne man das Votum der Franzosen und Niederländer nicht einfach ignorieren. Anderseits aber zeigten Meinungsumfragen, dass die Bürger eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als vorrangige Aufgabe der EU ansehen. Daher plädiert Heusgen für eine weitere Stärkung seines ehemaligen Chefs Solana. Konsequenz dieser Einführung des EU-Außenministers durch die Hintertür wäre freilich eine Schwächung der außenpolitischen Rolle auch der deutschen Regierung.

Ein anderer Teil der Verfassung, der ohne Ratifizierung umgesetzt werden könnte, ist die stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an der EU-Gesetzgebung. Der CDU-Abgeordnete Matthias Wissmann, alter und wohl auch neuer Vorsitzender des Europaausschusses, hält dies für eine „sympathische Idee“. Und könnte dabei unter anderem von Luxemburgs Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker unterstützt werden. Andere Europapolitiker, wie etwa der grüne Bundestagsabgeordnete Rainder Steenblock, befürchten, dass die Zerfaserung der Verfassung zu einer vorschnellen Aufgabe des ganzen Projekts führen könnte.

Steenblock fordert, möglichst schnell eine Debatte über die Zukunft der EU und vor allem über ihre „soziale Dimension“ zu beginnen. Schwarz-Rot hat im Koalitionsvertrag vereinbart, während der deutschen EU-Ratpräsidentschaft im Frühjahr 2007 eine Initiative zur Verfassung zu starten. Für die Grünen ist das „eindeutig zu spät“.

Der erste Auftritt. Der EU-Gipfel in Brüssel am 15. Dezember wird der erste wichtige Auftritt von Angela Merkel auf der Brüsseler Bühne. Dabei steht nichts weniger als die Verabschiedung des Haushalts für die Jahre 2007 bis 2013 auf dem Programm. Hauptstreitpunkt sind einmal mehr die Agrarsubventionen und der von Margaret Thatcher erstrittene „Britenrabatt“, wo sich derzeit aber weder Großbritannien noch Frankreich bewegen. Wenn es Merkel bei ihrem Besuch in London, der morgen Abend stattfinden soll, nicht gelingt, eine Kompromisslinie mit Blair zu entwickeln, wird der erste EU-Gipfel der Kanzlerin mit ziemlicher Sicherheit scheitern.

Die Verbündeten. „In Frankreich haben sie die Telefone ausgestöpselt“, sagt Europaexperte Maurer und meint damit: Von Frankreich ist derzeit keine europapolitische Initiative zu erwarten – und dies wird bis zu den Präsidentenwahlen 2007 wohl auch so bleiben. Wenn der deutsch-französische Motor aber stillsteht, welche Verbündeten hat Merkel dann? Italien ist mit sich selbst beschäftigt, Holland richtungslos, Großbritannien isoliert, und Polen sieht, so Mateusz Falkowski vom Institut für Public Affairs in Warschau, Deutschland vor allem als Nettozahler, erwartet also Geld.

Viele Staaten bleiben da nicht mehr übrig. Merkel-Berater Heusgen empfiehlt eine enge Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten, doch die erhoffen sich von der Kanzlerin eine – unrealistische – Revision des deutsch-russischen Vertrags über den Bau einer Pipeline durch die Ostsee. Heusgen hält auch eine Zusammenarbeit von Merkel und dem spanischen Sozialisten Zapatero für durchaus Erfolg versprechend, schließlich hätten sich ja auch Kohl und Gonzales gut verstanden.

Die Zukunft. Das Hauptproblem der deutschen Europapolitik wird sein, dass die Interessengegensätze in einer EU mit 25 Mitgliedstaaten immer größer werden. Aus Brüssel ist zu hören, dass Beamte mit speziellen Taschenrechnerprogrammen in die Sitzungen kommen, um sofort auszurechnen, ob es „reicht“: nicht etwa die Durchsetzung, sondern die Blockade einer Entscheidung.

Um diese Blockade zu überwinden wird unter Europapolitikern immer öfter über die Zusammenarbeit in so genannten Pioniergruppen diskutiert. Die Staaten, die zum Beispiel bei der Terrorbekämpfung enger kooperieren wollen, sollen daran nicht von anderen gehindert werden. „Voraussetzung ist, dass niemand ausgeschlossen wird“, sagt Matthias Wissmann und glaubt, dass Außenminister Steinmeier hier anders als sein Vorgänger auf die kleinen Staaten zugehen wird. Und auch Politikberater Maurer meint: „Avantgarde ist gut für die EU.“ Warum sollen die Staaten, die die Verfassung bereits ratifiziert haben, und das ist immerhin die Mehrheit, nicht zum Beispiel einen gemeinsamen diplomatischen Dienst aufbauen?

Womit man wieder bei der Außenpolitik ist. Außer dieser sowie der Erweiterung scheint die EU derzeit kein Projekt zu haben. Das ist freilich besser als gar keines. „Europa ist wie ein Fahrrad“, zitiert Christoph Heusgen einen immer wieder gern gemachten Vergleich, „beide müssen sich fortbewegen, sonst stürzen sie um.“ Angela Merkel wird kräftig in die Pedale treten müssen.