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Arno Schmidts "Zettel's Traum"Die Neuentdeckung eines Dinosauriers

Arno Schmidt war ein Ausnahmeliterat und sein Werk "Zettel's Traum" ist ein Buch im Ausnahmeformat. Erst jetzt konnte es so erscheinen, wie es der Autor wollte.

Arno Schmidt im Jahr 1970. Bild: arno schmidt stiftung, bargfeld

Im Jahr 1973 starb, mit 81, in Chicago ein Nachtwächter namens Henry Darger. Dieser Mann, der während seines Lebens niemandem irgendwie auffiel, hat eins der originellsten, obsessivsten, unheimlichsten, faszinierendsten Kunstwerke des vergangenen Jahrhunderts geschaffen. Nämlich den Roman mit dem sehr langen Titel "The Story of the Vivian Girls, in What is known as the Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinnian War Storm, Caused by the Child Slave Rebellion".

Sein Vermieter fand das 15.000 Typoskriptseiten starke, reich und hochseltsam illustrierte Manuskript in dem möblierten Zimmer, in der sich das anonyme, nur der Kunst gewidmete Leben eines Mannes abgespielt hat. Hier hatte er nach Dienstschluss und an den Wochenenden jahrzehntelang künstlerisch gearbeitet, in einer Einsamkeit, für die wir keine Begriffe haben.

"In the Realm of the Unreal" und andere Bildmanuskripte Henry Dargers, unter anderem eine monumentale Autobiografie, befinden sich inzwischen in den weltweit ersten Sammlungen. Klaus Biesenbach vom New Yorker Museum of Modern Art hat ihm neulich eine wunderschöne Bildmonografie gewidmet. Dargers Einfluss auf die zeitgenössische Kunst ist beträchtlich und im Wachsen.

An Henry Darger, dessen Werk man im New Yorker Museum of American Folk Art bestaunen kann, musste ich denken, als mir jetzt die typografisch gesetzte Ausgabe von "Zettel's Traum" vom Suhrkamp Verlag zugeschickt wurde. Das Paket mit meinem Besprechungsexemplar hatte die Form eines Achtziger-Jahre-Kassettendecks und wog fast sieben Kilo. Die Umwandlung des bisher nur als Typoskript vorliegenden Riesenwerks in ein richtiges Buch hat zwei Jahrzehnte in Anspruch genommen. Sie ist der Schlussstein in dem monumentalen Unternehmen der "Bargfelder Ausgabe" der Werke Arno Schmidts.

"Zettel's Traum" ist ein beispielloses Buch. Aber vielleicht nur deshalb, weil wir in der falschen Richtung nach Beispielen suchen, nämlich in den vergleichsweise fußgängerischen Mittellagen des deutschen Nachkriegsliteraturbetriebs. Im Kontext der heutigen Fauna ist der Tyrannosaurus Rex ein beispielloses Tier. Im Mesozoikum nicht. Vielleicht muss man sich angewöhnen, Arno Schmidts Bargfelder Spätwerk - die Typoskriptromane "Zettel's Traum", "Die Schule der Atheisten", "Abend mit Goldrand" sowie das unvollendete Manuskript "Julia, oder Über die Gemälde" - nicht in der künstlerischen Nachbarschaft von Bölls "Ansichten eines Clowns" oder Anderschs "Kirschen der Freiheit" zu betrachten, nicht einmal in derjenigen der "Blechtrommel" oder der "Jahrestage". Sondern als literarisch und theoretisch hochgezüchteten Parallelfall von Henry Dargers Lebenswerk und anderer autistischer Monumentalkunstwerke der "Outsider Art".

1958, ein Jahr vor dem Explosionsjahr der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, bevor 1959 die "Blechtrommel", "Billard um halb zehn", die "Mutmaßungen über Jakob" erschienen, ein Jahr bevor Unseld den Suhrkamp Verlag übernahm und kulturell in Deutschland nichts mehr so sein würde wie zuvor, bezogen Arno Schmidt, seine Frau Alice und verschiedene Katzen ein Häuschen von 50 Quadratmeter Grundfläche am Dorfrand von Bargfeld in der Lüneburger Heide. Es war eine Sezession. Der Versuch, eine alternative Hauptstadt der deutschen Literatur zu begründen.

"Das Material sprintet förmlich auf mich zu."

Der berühmte Zettelkasten. Bild: Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld

Der literarische Einzelgänger Schmidt hatte im zurückliegenden Jahrzehnt seine Ausnahmestellung theoretisch ausführlich begründet und literarisch glänzend unter Beweis gestellt. Mit den "Berechnungen I-III" lag eine von Henri Bergsons Zeitbegriff und expressionistischen Vorläufern beeinflusste Theorie seiner literarischen Mosaiktechnik sowie der Denk- und Lebensform des "Längeren Gedankenspiels" vor. Seine Dialogessays für das Radio unternahmen eine hochoriginelle und heute noch anregende Neukodierung deutscher Literaturgeschichte, die sich auf Wieland statt auf Goethe als Gipfelpunkt der Nationalliteratur bezog.

Schmidt hatte eine Anklage der Nachkriegsjustiz wegen Gotteslästerung und Pornografie überstanden. Er würde 1959 auf einem Spiegel-Titelbild zu sehen sein. Er arbeitete an Übersetzungen Edgar Allan Poes. Populäre kleine Erzählungen (die wundervollen "Stürenburg-Geschichten" und die Nachrichten "Aus der Inselstraße") waren in den ersten Feuilletons der Republik erschienen. Schmidt hatte einen repräsentativen Literaturpreis bekommen. Er hatte sich mit einer Biografie Fouqués als professioneller Literaturhistoriker bewährt.

Und vor allem: Es waren schön gestaltete Ausgaben eines halben Dutzends spannender, komischer, erotischer, realitätsgesättigter und literarisch hochambitionierter Romane und längerer Erzählungen auf dem Markt: "Leviathan", "Schwarze Spiegel", "Das Steinerne Herz", "Aus dem Leben eines Fauns", die dann juristisch angefochtene "Seelandschaft mit Pocahontas" als Zeitschriftenbeitrag. Etwas später erschien vor allem "KAFF auch Mare Crisium", der große Durchbruch.

Geboren wird Arno Schmidt am 18. Januar 1914 in Hamburg-Hamm als Sohn des Polizisten Friedrich Otto Schmidt und dessen Frau Clara.

Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1928 nach Lauban in Oberschlesien, die Heimat der Mutter. 1933 macht Schmidt in Görlitz Abitur, besucht danach die Handelsschule.

Bis zu seiner Einberufung zur Artillerie arbeitet Schmidt als Lagerbuchhalter einer Modefabrik, verfasst Gedichte und ein erstes Erzählfragment ("Die Insel"). Seine einzige freiwillige Auslandsreise führt ihn 1938 ans Grab von Charles Dickens in London. Den Krieg verbringt er im Elsass, in Norwegen und, ab April 1945, in britischer Gefangenschaft.

Nach dem Krieg arbeitet er als Dolmetscher, veröffentlicht die Erzählung "Leviathan" und verarbeitet eine Reise nach Ostberlin in dem Roman "Das steinerne Herz". Eine Auswanderung nach Irland scheitert daran, dass Schmidt kein geregeltes Einkommen nachweisen kann.

Nach mehreren Umsiedlungen und Umzügen lässt er sich mit seiner Frau, Alice Murawski, 1958 endgültig im niedersächsischen Dörfchen Bargfeld (Landkreis Celle) nieder. Sein Wohnhaus verlässt der Dichter, jede "Berührung mit Anderen" meidend, nur noch selten.

Nach mehrjährigen Vorarbeiten erscheint 1970 sein Hauptwerk "Zettel's Traum". Kurz vor seinem Tod findet er in Jan Philipp Reemtsma einen Mäzen, der ihn und seine Arbeit 1977 mit 350.000 DM unterstützte.

Arno Schmidt stirbt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirnschlags im Krankenhaus Celle. Sein Prosawerk "Julia, oder die Gemälde" bleibt unvollendet.

Zettelkasten-Buch

1970, als "Zettel's Traum" erschien, war der Bleidruck noch unangefochten. Vor Arno Schmidts sprachlichem Erfindungsreichtum aber mussten die Drucker vor 40 Jahren kapitulieren. Das Buch ist in drei nebeneinander stehenden Spalten erzählt. Es gibt übereinandergestellte Wörter und die für Schmidts Spätwerk typischen komplizierten Interpunktionsfolgen. So wurde "Zettel's Traum" als Typoskript publiziert, in einer auf zuerst 2.000 Bände limitierten, signierten Auflage im DIN-A3-Format im Stahlberg Verlag. Erst mit der maximalen Beweglichkeit der Satztechnik konnte das Buch in der Form erscheinen, wie sie der Autor im Sinne hatte. Der Buchgestalter und Typograf Friedrich Forssman hat die gesetzte Version jahrelang, finanziert von der Arno Schmidt Stiftung, erarbeitet.

Schmidt war zu Beginn der Sechzigerjahre, an allen gängigen Parametern gemessen, berühmt. Er hatte erreicht, was ein Schriftsteller erreichen kann. Und er spielte künstlerisch in einer ganz anderen Liga als die meisten Mitglieder der Gruppe 47, auf deren Treffen die Claims der bundesrepublikanischen Literaturszene jetzt aufgeteilt wurden und mit denen er nichts zu tun haben wollte.

Die Theorie der "Einflussangst", die der berühmte amerikanische Literaturtheoretiker Harold Bloom ausgearbeitet hat, analysiert die desaströsen Folgen, die berühmte Bücher haben können. Der Autodidakt Arno Schmidt, der die Nazizeit als kaufmännischer Angestellter und Artillerist überstanden hatte, war erst 1956 mit dem Werk James Joyces in Berührung gekommen, angeregt dazu vor allem dadurch, dass ihn seine Kritiker unentwegt mit Joyce verglichen.

Parallel zur Entdeckung des "Ulysses" und von "Finnegans Wake" beschäftigte sich Schmidt in den späten Fünfzigern außerdem intensiv mit dem Werk Sigmund Freuds, vor allem mit der Traumdeutung und der psychoanalytischen Theorie der Fehlleistungen. Und dann - in der Bargfelder Einsamkeit, unter dem Einfluss einer jahrzehntelang durchgehaltenen Überarbeitung und dem damit einhergehenden Missbrauch von Asbach Uralt, Nescafé und allerlei stärkerer Aufputschmittel - passierte etwas Einschneidendes und Entscheidendes.

"Der kluge Rezensent sagt ein Jahr gar nichts"

Bei der Beurteilung dieser Bargfelder Wende Arno Schmidts spaltet sich das Narrativ über seinen Werdegang in zwei entgegengesetzte Fraktionen und Erzählstränge. Für Bewunderer des Schmidt'schen Spätwerks (nennen wir sie die "Bargfeld-Fraktion") liegen die Dinge so, dass in Bargfeld seit den frühen Sechzigerjahren das bedeutendste literarische Lebenswerk in deutscher Sprache nach 1945 entstand. Die Bargfeld-Skeptiker dagegen weisen, ebenfalls mit einigem Grund, darauf hin, dass in der Lüneburger Heide die Dinge in einer grandios schrecklichen Weise aus dem Ruder zu laufen begannen.

Schmidt nahm sich in Bargfeld zweierlei vor: erstens den späten Joyce der "Finnegans Wake"-Phase durch einen monumentalen Roman ultimativ zu toppen. Und zweitens nicht nur seine eigene schriftstellerische Arbeit, sondern auch sein literarhistorisches Lebenswerk konsequent umzustellen auf die Psychoanalyse. Beziehungsweise auf das, was er dafür hielt. Das Ergebnis dieser beiden Vorhaben war "Zettel's Traum".

Alice Schmidt hat das halbe Jahrzehnt der Entstehung beschrieben: "Keine Spaziergänge mehr - kein Sitzen im Garten - kein Sonntag - kaum die Möglichkeit eines Gespräches : Auf Fragen nur abwesend nervöse Antworten : bestenfalls. - In ständigem Gemurmel, wortprobierend, bewegten sich seine Lippen. Völlige Vernachlässigung der eigenen Gesundheit. Völlige Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht ZT betraf. Er nahm von keinem Brief Kenntnis. Schrieb keinen : jahrelang."

Die Handlung des Romans, wenn man im Fall von "Zettel's Traum" von einer Handlung reden will, ist schnell referiert. Im Grunde handelt es sich um die Standardsituation, die Schmidt bereits in seinen Radiodialogen über berühmte Kollegen erprobt hatte: Ein älterer Literatursachverständiger setzt seine Einsichten über einen anderen Schriftsteller dialogisch auseinander, vor einem teils bewundernden, teils verwunderten oder entrüsteten, Stichworte liefernden, Koalitionen bildenden, dann allmählich überzeugten kleinen Publikum, das meistens aus einem jüngeren Mann besteht und obligatorisch aus einer oder zwei verführerischen Frauen.

In "Zettel's Traum" ist die mentorenartige Rolle besetzt durch Daniel Pagenstecher, ein Selbstporträt Schmidts. Pagenstecher lebt einsam auf dem Land und hat Besuch von dem Ehepaar Wilma und Paul, die gerade das Werk Poes ins Deutsche übersetzen. Und er hat Besuch von der faszinierendsten und prekärsten Figur des Romans - von Wilmas und Pauls 16-jähriger, erotisch wie intellektuell frühreifer Tochter Franziska, deren zielgehemmte Verliebtheit in den älteren Mann das psychodynamische Glutzentrum des Romans bildet. Thema der auf ausgedehnten und hinreißend beschriebenen Spaziergängen sich entfaltenden Dialoge, Vorträge, Zitierorgien und theoretischen Spiegelfechtereien ist einerseits Poe als erotischer Schriftsteller, andererseits Pagenstecher/Schmidts psychoanalytische Literaturtheorie.

Freud war bekanntlich nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, dessen Werke novellenartig und romanhaft organisiert sind. Sondern er wies, vor allem in der "Traumdeutung", nach, dass sich das Unterbewusstsein literarischer Techniken - der Verdichtung und der Verschiebung - zu dem Zweck bedient, seine Inhalte, Wünsche, Triebregungen durch die Zensur des Wachbewusstseins zu schmuggeln und als Kulturleistungen zu kostümieren. Freuds therapeutische Methode besteht im Grunde aus nichts anderem als aus einer Decouvrierung und Rückgängigmachung dieser Verschlüsselungen. Die Heilung der Neurose ist ein Nebeneffekt dieser hermeneutischen Leistung.

Schmidt lässt sie in "Zettel's Traum" dem Werk Edgar Allan Poes angedeihen - und zugleich dem Sprechen seiner Hauptfigur und dessen Fantasien über Wilma und Franziska, überhaupt dem ganzen Dialog-, Denk-, Trieb- und Traumgeschehen, das sich in Nouveau-Roman-artiger Ausführlichkeit von Kapitel zu Kapitel in "Zettel's Traum" entfaltet.

Eine besondere theoretische Rolle spielt in diesem Zusammenhang der von Schmidt erfundene Begriff der "Etyms". Etyms sind virale oder koboldhafte Wort- und Sinnfetzen, die als Fehlleistungen, poetische Überdeterminiertheiten, unkontrollierbare Nebenbedeutungen, fantastische Überformungen das bewusste Sprechen begleiten. Sie stellen sozusagen die Sprache des Unbewussten dar. Sie laufen unentwegt neben ihm her, als seine verleugnete Wahrheit, als peinliches Nebengeräusch, als Kalauer, als poetische Erfindung. Dem Etym-Sprechen zufolge ist beispielsweise der Nachname Edgar Allan Poes in ermüdender Unvermeidlichkeit zugleich das menschliche Gesäß, und ein Romantiker erweist sich als ein Mensch, der an einem Roh=Mann=Tick leidet.

Hier setzt das erste Unbehagen ein, das von Schmidts Spätwerk ausgeht. Man kann sich nicht von dem Eindruck freimachen, dass Schmidt Freud mechanistisch missverstanden hat. Seine literaturhistorische und prosatechnische Anwendung der Psychoanalyse lässt den Geist, die weiten Horizonte, die Liberalität, den Humor ihres Erfinders entschieden vermissen.

Das in "Zettel's Traum" operierende Unterbewusste ist von einem niederschmetternden Mangel an Raffinesse, Fantasie, Variationsfähigkeit, Geist und Esprit. Es erinnert vielmehr an gewisse Manien sexuell unbefriedigter älterer Männer. Zum Beispiel an die Gesprächstechnik des Malers Leo Zink in Thomas Manns Roman "Doktor Faustus" und an dessen "schon langweilige Art, im Gespräch auf jedes Wort aufzupassen, ob ihm nicht ein geschlechtlicher Doppelsinn beizulegen sei, in den er einhaken konnte".

Vermutlich ist das wirkliche Unterbewusstsein real existierender Menschen sehr viel raffinierter, interessanter und vermutlich auch nicht so reflexlos einschnappend oversexed wie das Daniel Pagenstechers (der Franziska übrigens, in einer eigentümlich spießigen Wendung, am Schluss des Romans entsagt und ihr dafür eine Ausbildung zahlt, gegen den Wunsch ihrer Eltern, die den - wie sich irgendwann herausstellt, schwangeren - Teenager in eine Berufstätigkeit zwängen wollen). Ein möglicher Einwand der Bargfeld-Skeptiker gegen "Zettel's Traum" ließe sich so formulieren: Ein intelligenter Mensch hat kein solches Unterbewusstsein!

Was zu einer zweiten Frage führt, die "Zettel's Traum" einem literaturkritischen Beobachter aufgibt, nämlich derjenigen, ob die Literaturgeschichte, die "Entwicklung des künstlerischen Materials" oder der Weltlauf überhaupt notwendigerweise oder auch nur mit einiger Berechtigung solche Über-Bücher wie die späten Romane Schmidts hervorbringt. Zu ihrer Klärung sollte man vielleicht weniger die theoretische Literatur befragen (da müsste man wohl vor allem in Adornos "Ästhetischer Theorie" nachschlagen) als die eigene Lektüreerfahrung.

Der einzige Typoskriptroman Arno Schmidts, den ich von vorne bis hinten durchgelesen habe, ist die "Schule der Atheisten". Die Lektüre ist ein eigenartiges Wechselbad. Das ebenfalls unförmige, aber weitaus kürzere zweite Typoskriptbuch Schmidts ist zum Teil sehr komisch. Es ist auf seine Art erotisch und spannend. Es löst eine Art Trance aus. Ein Vierteljahr irgendwann in den Achtzigerjahren konnte ich gar nicht mehr aufhören, jeden Abend "Die Schule der Atheisten" weiterzulesen. Und doch wird, je länger die Lektüre dauert, eine Art Grauen immer unabweisbarer. Das Gefühl, eine monumentale Verfehltheit in sich aufzunehmen. Eine Rezeptionshaltung, die sich zusammensetzt aus unwillkürlicher Rührung, ehrlicher Bewunderung, einer sich allmählich einstellenden Vertrautheit mit Schmidts psychoanalytischer Orthografie.

Und daneben und gleichzeitig erzeugt die Langstrecken-Schmidt-Lektüre einen Widerwillen, sich rezeptiv in ein Unternehmen zu verstricken, das einem, wenn man seinen Menschen- und Leserverstand nicht ganz an der Garderobe abgegeben hat, nicht anders vorkommen kann als pathologisch.

"Ein Buch ist ja schließlich auch eine Art - Teppich oder Gobelin, wenn Sie so wollen" (Arno Schmidt in einer Rundfunksendung)

Jetzt, beim Schmökern in dem kassettendeckgroßen und fast sieben Kilo schweren, in der Studienausgabe in vier taubengraue Schwarten aufgeteilten Konvolut von "Zettel's Traum" habe ich das kompliziert zusammengesetzte Lektüregefühl aus den Achtzigerjahren genau wiedergefunden. Abendelang habe ich in einer leicht perversen Faszination genossen, wie Bewunderung in Ekel umschlägt. Und dann plötzlich in das dringende Bedürfnis, weiterzulesen. Zu sehen, wie Schmidt sich aus den Komplikationen befreien wird, in die er sich, auf jeder der überdimensionierten, in drei Spalten aufgeteilten Seite tiefer hineinschreibt. Und je weiter man liest, desto undeutlicher wird einem, ob man ein Kunstwerk vor sich hat oder ein Symptom.

Die Wahrheit über Schmidts Spätwerk besteht wahrscheinlich darin, dass es, viel deutlicher als die meisten anderen inkommensurabel großen Bücher, beides zugleich ist. Große Kunst und kompliziert ausgearbeiteter Dachschaden. Und die Schwierigkeit und vielleicht Unmöglichkeit, sich zwischen diesen beiden Lesarten zu entscheiden, ist eben genau das Merkmal jener autistischen Monumentalwerke der "Outsider Art", wie eines zum Beispiel in Henry Dargers möbliertem Zimmer in Chicago entstanden ist.

Andere Beispiele wären Ferdinand Chevals "Palais idéal" in Charmes-sur-l'Herbasse, dem Peter Weiss einen Essay gewidmet hat. Oder das Lebenswerk Adolf Wölflis. Nur dass das Schmidt'sche Spätwerk eben nicht, wie die Monumentalwerke Chevals, Dargers und Wölflis, von einem ungebildeten und sozial randständigen Künstler geschaffen worden ist, sondern von einem hochgebildeten, im Literaturbetrieb etablierten, mit allen literaturtheoretischen Wassern gewaschenen Intellektuellen. Der allerdings, und auch das ist wahr über Arno Schmidt, in seinen autodidaktischen und autistischen Zügen, in seiner selbstgewählten haarsträubenden Bargfelder Isolation, in seiner Herkunft aus prekären, pathologisierenden Sozial- und Familienverhältnissen mehr biografisch-psychologische Berührungspunkte mit Darger, Cheval und Wölfli gehabt hat, als der Bargfeld-Fraktion lieb sein kann und sie vermutlich zuzugeben bereit wäre.

Die bundesrepublikanische Nachkriegsliteratur, so könnte man es zusammenfassen, hat gegenüber allen anderen europäischen Literaturen einen einmaligen, faszinierenden, schrecklich-schönen Sonderfall aufzuweisen: den Fall eines etablierten Schriftstellers, der schon in den Fünfzigerjahren ein Werk vorgelegt hatte, das an Originalität, technischer Virtuosität, intellektuellem Gehalt, internationalistischer Welthaltigkeit und Qualität weit über das seiner Zeitgenossen hinausragte. Und der dann irgendwann in den Sechzigerjahren alles auf eine Karte gesetzt hat und darüber ein bisschen verrückt geworden ist.

Wir Nachgeborenen sollten jetzt zwei Dinge tun. Erstens das Vor-Bargfelder Werk Arno Schmidts unbefangen bewundern, lesen und genießen. Und zweitens den Bargfelder Schmidt als einen interessanten, rührenden und ein bisschen schrecklichen Sonderfall literarischer "Outsider Art" verehren. Der Abschluss der Bargfelder Ausgabe bietet für beides jetzt die perfekte Textgrundlage.

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5 Kommentare

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  • K
    K.K.Koriander

    ...vielen, vielen Dank für einen wunderbaren Artikel von hoher sprachlicher Qualität... endlich mal wieder jemand, der nicht vergessen hat, dass Schreiben und Sprache an sich gepflegt werden wollen. Selten so viel Freude beim Lesen eines Beitrages gehabt. Danke...

  • MN
    Mein Name ist nicht Arno

    Leute, das war der beste Artikel den ich seit langem in der taz gelesen habe.

    Fettes Gratz!

  • D
    definitiunkreativ

    Guter Artikel, vielen Dank!

  • B
    Birgit

    Ich habe gelesen, dass Arno Schmidt in Zürich, meine ich, gegen James Joyce geboxt hat. Mit dem Preisgeld hat dann James Joyce seine Augenoperation bezahlt.

  • P
    Pedant

    Vom "Unterbewusstsein" hat Freud nie gesprochen