Die Wahrheit: Das humpelnde Volk

Der Ire an sich ist nicht wintertauglich. Kaum fiel der erste Schnee, da fielen auch die ersten Menschen ...

... Jedes irische Krankenhaus versorgte täglich rund ein Dutzend Knöchelbrüche, vier bis fünf kaputte Hüften und ein paar Armbrüche. Inzwischen ist die halbe Nation eingegipst. Die Ärzte raufen sich die Haare. Man möge nie mit den Händen in den Taschen herumlaufen, rieten sie. Wenn man unbedingt rausmüsse, solle man sich einen Entengang angewöhnen oder zwei Skistöcke benutzen. So hat Nordic Walking nun auch in Irland um sich gegriffen.

Áine hat es ebenfalls erwischt. Sie hatte dafür gesorgt, dass sich die Schulkinder an der Eingangstür den Schnee von den Schuhen abputzen, damit sie nicht ausrutschten. Nachdem die Kleinen unversehrt in ihre Klassenräume gelangt waren, glitschte sie selbst aus - komplizierter Trümmerbruch im rechten Knöchel. Weil im Zuge der Sparmaßnahmen viele Krankenhausbetten gestrichen worden sind, hat die erhöhte Zahl von Knochenbrüchen dazu geführt, dass die Verletzten in den ohnehin überfüllten Notaufnahmestationen herumliegen, bis ein Bett frei wird. Die Patienten mögen geduldig sein, bat der Arzt. Das beinhaltet ja schon die englische Sprache: Ein Patient heißt auch im Englischen "patient", aber als Adjektiv bedeutet das Wort "geduldig".

Als ich Áine schließlich vom Krankenhaus schwungvoll nach Hause schob, kam der Rollstuhl an einem unter dem Schnee versteckten Bordstein abrupt zum Stehen, so dass sie auf die Straße kippte, was den Heilungsprozess nicht eben beschleunigte. So lernte sie die Rollstuhlfahrtechnik lieber selbst und beherrschte schon bald eine perfekte Dreipunktwendung auf engstem Raum. Von mir gab es das passende Weihnachtsgeschenk: Fausti, der Rollstuhlhandschuh. Das Modell "Graue Eminenz" sei für jeden Rollstuhl geeignet, versprach die Werbung. Sie schenkte mir eine Krankenschwesternuniform.

Schade, dass sie bei ihrem Sturz keine Stöckelschuhe getragen hatte. Ein Gericht im englischen Manchester hat nämlich einer Frau, die sich den Knöchel gebrochen hatte, als ihr 7,2 Zentimeter hoher Absatz abbrach, 7.200 Pfund Schmerzensgeld zugesprochen - das sind tausend Pfund pro Absatzzentimeter. Nach dem Unfall war die lädierte Lady trotzdem ins Wirtshaus gegangen, weil sie sich den Abend nicht verderben lassen wollte. Nach den ersten paar Drinks ging es ihr besser, doch dann kippte sie bewusstlos um.

Noirín hatte flache Schuhe getragen, aber genützt hat es ihr nichts. Bei einem Sturz brach sie sich den Arm. Claire war ebenfalls hingefallen und trug nun einen dicken Kopfverband. Heiligabend saßen die drei Frauen nebeneinander auf der Couch und erzählten sich Geschichten aus der Schneehölle. Mit dem Mädchen aus der Nachbarschaft konnten sie freilich nicht mithalten: Die 14-Jährige hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren beide Fußknöchel, beide Handgelenke, drei Finger und zwei Rippen gebrochen.

Am 1. Februar beginnt laut keltischem Kalender der Frühling. Bis dahin muss das Gipsvolk noch durchhalten.

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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