Einmal Westen und zurück: Ein Leben ohne Heimat

Die Geschichte der kasachischen Spätaussiedlerin Frida Schäfer, die sich in ihrem Dorf Pokrowka nicht mehr wohlfühlte, mit 68 Jahren eine neue Heimat in Bremen suchte und mit 74 Jahren nach Kasachstan zurückkehrte.

Mit ihrer Rückkehr hatte niemand gerechnet: Frida Schäfer (rechts) und ihre Tochter im kasachischen Pokrowka. : Diana Laarz

Frida Andrejewna Schäfer war 68 Jahre alt, als sie loszog, ihre Heimat zu suchen. Die Kuh Solka blieb zurück und Tochter Galia auch, mitsamt ihrem gottverdammten Ehemann. Frida Schäfer fuhr nach Almaty, dann nach Moskau, und als sie am Amsterdamer Flughafen nicht mehr weiter wusste, hat sie einen von diesen netten Herren in Uniform gefragt. "Entschuldigen Sie, wie komme ich denn jetzt nach Hannover?" Von dort fuhr Frida Schäfer zu ihrem Ziel. Das Ziel war Bremen.

In Bremen, in ihrem neuen grauen Wohnviertel, klingelte Frida Schäfer, zehnter Stock, an die Tür ihrer Cousine Erna Schneider, siebter Stock. Die Cousine, gerade beim Mittagessen kochen, sagte: "Was willst du denn hier?" Und nichts weiter.

Frida Andrejewna Schäfer war 74 Jahre alt, als sie sich endgültig zu alt für das Suchen fühlte. Sie packte ein paar Klamotten zusammen, die deutsche Bibel, einen Edelstahltopf, der nach Ikea aussieht, und fuhr wieder zum Flughafen Hannover. Zurück in Kasachstan sagte Tochter Galia: "Was willst du denn hier? Wir haben dich nicht gerufen." Die Kuh war verkauft.

Frida Schäfer lebt in Pokrowka, einem Dorf am unteren Ende Kasachstans. Wenn sie über die staubige, schnurgerade Komsomolskaja-Straße geht, dann bewegt sich der massige Körper hin und her wie das Pendel einer Uhr. Das weiße lange Haar zum Knoten geschlungen, den Kopf hält sie etwas höher, als es nötig wäre. Sie lebt in einem Raum, der Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche zugleich ist, die Ritzen im Fensterrahmen sind mit Klebestreifen geflickt. Das Klo steht draußen unterm Apfelbaum.

Identität bestätigt

Auf dem Tisch liegen in einer zerknitterten Folie neben Antibiotika und Blutdrucksenkern die Papiere, die Frida Schäfers Identität belegen sollen: Eine AOK-Versichertenkarte, noch gültig, ein deutscher Reisepass und ein maschinenbeschriebenes Blatt Papier. Deutscher Adler auf blassrosa Papier. Bescheinigung nach Paragraf 15, Absatz 1 und 2 des Bundesvertriebenengesetzes. Nummer 4011/3520. Frida Schäfer, geboren am 30. Mai 1932 in Jurjew-Polskij, wird am 24. Oktober 2000 als Spätaussiedlerin in der Bundesrepublik Deutschland willkommen geheißen.

Tochter Galia ist zum Essen vorbeigekommen. Ausnahmsweise. "Ich fahre einkaufen, brauchst du etwas?", fragt sie. "Wie soll ich das wissen, wenn ich es nicht sehe. Lass mich mitfahren." - "Brauchst du etwas oder nicht?" - "Ich weiß nicht." Dann wieder Schweigen.

Frida Schäfer sitzt auf der Bettkante, die Arme wie ein Schutzschild vor der Brust verschränkt. Sie blickt auf ihre Finger, der Dreck aus Küche und Garten hat sich unter den kurzen Fingernägeln festgesetzt.

Mutter und Tochter werfen einander kurze scheue Blicke zu. Besteckklappern, draußen wütet Hund Dusik. Frida Schäfer sagt, sie sei zurückgekommen, um der Tochter zu helfen. Doch Galia braucht keine Hilfe. Galia will, dass die Mutter weniger arbeitet, sich nicht beschwert. Die Mutter sagt, sie habe alles bezahlt. Das Haus, in dem der ungeliebte Schwiegersohn wohnt, den sie nur "den Schwarzen" nennt, weil er Kasache ist. Das Spielzeug, das die Enkelin Luisa keines Blickes würdigt. Sie erwartet, sie fordert Dank.

Sie erhält 120 Euro im Monat, das bekommt eine Rentnerin, die es gewagt hat, Kasachstan zu verlassen und dann wiederkommt.

Ein Foto im Album zeigt Frida Schäfer vor Rüschengardinen, Weingläser auf den Tischen, dazwischen eine gebratene Ente, bundesdeutsche Weihnachten im Plattenbau. Jeder hat jemanden zum In-den-Arm-Nehmen. Frida Schäfer sitzt dabei, aber sie ist allein. Als sie in der Bremer DRK-Kleiderkammer, in der sie manchmal beim Sortieren aushalf, erzählte, dass sie zurück nach Kasachstan geht, rief die Kollegin: "Hol mal einer einen langen Stecken, die Frida gehört geschlagen, die weiß ja gar nicht, was sie tut."

Alle nannten sie Babuschka, sie kochte die besten Pelmeni der Plattenbausiedlung. Frida Schäfers Lieblingsplatz in Bremen war eine Bank im Einkaufszentrum, links der Plus, rechts der Komet. Als sie zum ersten Mal dort einkaufen ging, konnte sie die lateinischen Buchstaben auf den Packungen nicht entziffern. Sie kaufte eine deutsche Bibel und lernte damit die Sprache.

Als sie eines Tages wieder verloren vor dem Supermarktregal stand, sprach eine grauhaarige Frau sie an. Es war Emilia Knoll, auch aus Kasachstan nach Bremen gekommen. "Na, was stellst du hier so an?", fragte die Frau. Sie lud Frida Schäfer zu sich nach Hause ein. Da gab es noch mehr Gestrandete.

In Deutschland hat Frida Schäfer einen Menschen sterben sehen. Beim Bremer Ehepaar Hamann, an die 90 Jahre alt, ging sie, die 70-Jährige, einmal in der Woche putzen. Staubsaugen, fegen, Staub wischen, immer mit trockenem Tuch, was anderes mochte Mutter Hamann nicht. Irgendwann lag Erna Hamann im Krankenhaus, Krebs im Endstadium. Frida Schäfer ging jeden Tag hin und setzte sich ans Bett. Sie gibt viel, wenn die Menschen zurückgeben.

Einmal, als Frida Schäfer in Bremen auf einer Bank saß und mit Freundinnen sprach, hielt ein junger Mann an: "Sprecht gefälligst Deutsch." Das tat Frida dann: "Wenn euer Hitler nicht gewesen wäre, dann hätte ich meinen Vater noch lange gehabt."

Als Hitlers Armeen in Russland einmarschierten, war für Frida Schäfer der erste Schultag in der zweiten Klasse einer Stalingrader Grundschule. Kaum 24 Stunden später kauerte sie in einem Viehwagon, der gen Osten rumpelte. Von einem Tag auf den anderen war es ein Makel geworden, Volksdeutsche zu sein.

"Sibirien ist ein kaltes Loch, ach wär ich an der Wolga noch", sangen die Deutschen. Im Altaigebirge wurden sie ausgeladen. Im frostigen Januar 1942 sah Frida Schäfer ihren Vater Heinrich zum letzten Mal. Auf einer Kutsche holten sie ihn ab. Gesagt hat er nichts, nur geweint. "Ein guter Mann. Der Tag davor war der letzte glückliche Tag in meinem Leben." Das Grab von Heinrich Schäfer wurde nie gefunden.

Raus aus dem Dorf durften sie nicht, was sie ernteten, mussten sie abgeben. Für ein gestohlenes Kilogramm Weizen gab es zehn Jahre Knast. Frida Schäfer wurde Melkerin, Traktoristin, trug die Haare raspelkurz und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Sie zog nach Kasachstan, in der Steppe versammelte der Sowjetstaat alle unzuverlässigen Völker.

Anfang der 90er Jahre löste sich das Land von der Sowjetunion. Die Deutschen in Kasachstan verließen in Heerscharen das Land. Als Pastor Otto beim deutschen Gottesdienst nur noch mit 20 Gläubigen betete, ging auch Frida Schäfer. Die Nachbarn argwöhnten, es ginge gar nicht um Heimkehr, sondern um Wohlstand. "Ob ich eine Deutsche bin, na das geht doch keinen was an." Frida Schäfer sagt Sätze immer so, dass alle wissen: Widerworte sind nutzlos.

In Bremen, zwischen Supermarkt und Scheidemannstraße, erinnern sich manche noch an Frida Schäfer. "Immer bei den Leuten, nie zu Hause." Und dann ging sie ganz weg. "Sie hat es sich nicht ausreden lassen", sagt die Cousine Erna Schneider. "Jeder Mensch muss selbst entscheiden, was er macht", sagt die Freundin Elvira Sell und man hört das Achselzucken in der Stimme.

Sie fragen nicht, wie es der Zurückgekehrten geht. Sie haben vor vielen Monaten das letzte Mal mit ihr telefoniert. Die alte Freundin Elvira Sell hat nicht viel Zeit, um über die Vergangenheit zu reden. Sie muss die Enkel hüten. "Es gibt ja so schöne Spielplätze in Bremen."

Abschied im Dunklen

Es ist ein eisgrauer Januartag, als Frida Schäfer Deutschland verlässt. Der Cousine aus dem siebten Stock hat sie nichts verraten. Sechs Uhr morgens ist es noch still und dunkel in der Siedlung. Vor der Tür steht schon Elvira: "Es ist wohl das letzte Mal, dass wir uns sehen." Sie weinen, aber nur ein bisschen.

Emilia und ihr Mann bringen Frida Schäfer nach Hannover zum Flughafen. Sie blickt nicht zurück. Sie hat, was sie braucht, die Bibel und den Edelstahltopf. Heimat hat sie in Deutschland nicht gefunden. Glück auch nicht. Nirgendwo.

Manchmal träumt Frida Schäfer, sie könne sich einfach in ein Flugzeug setzen, nach Deutschland fliegen, wieder leben zwischen Plus und Komet. Wenn sie keine Wohnung bekommt, egal, sie könnte in einem Schlafsack in der DRK-Kleiderkammer schlafen. Sie hat die Obdachlosen in Bremen gesehen, sie weiß, wie Leben auf der Straße aussieht.

Ihre Stimme wird leise. Frida Schäfer weint. Nur für einen Moment, dann wischt sie die Tränen ab und nimmt eine Zinnschüssel aus dem Regal. Zwei Eier müssten auch noch irgendwo sein. Ein paar Pfannkuchen könnte man doch schnell machen, bevor die Dämmerung einbricht und die alkoholkranke Nachbarin wie jeden Abend anruft, nach Geld oder einem letzten Schluck fragt.

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