„Der Druck, nicht aufhören zu dürfen“

Pflegekräfte stehen bei der Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden häufig vor wichtigen Entscheidungen. Ethische Fallbesprechungen – zum Beispiel im Horner Hospiz – sollen diese Last verteilen

„Wegen der meist kurzen Verweildauer können wir den Menschen nicht wirklich kennen lernen. Das ist das Dilemma.“

„Daheim sterben die Leut‘“ heißt ein preisgekrönter bayerischer Kultfilm aus den 80er-Jahren. Doch der Titel hat mittlerweile kaum noch mit der Realität zu tun: Immer mehr Menschen verbringen ihre letzten Tage nicht zu Hause, sie sterben in einem Heim, einer Pflegeeinrichtung oder im Hospiz. Für das Pflegepersonal eine große Herausforderung: Während die finanziellen Ressourcen abnehmen, steigen die Anforderungen in der pflegerischen und medizinischen Versorgung. Wie man diesen Konflikt bewältigen könnte, das war Thema eines Symposiums im Hospiz Horn.

Rund 120 Fachkräfte, die sich um die Pflege von schwerstkranken und sterbenden Menschen kümmern, diskutierten auf Einladung der Bremer Heimstiftung mit VertreterInnen der Krankenkassen, aus behördlicher Betreuung und Aufsicht über „Verantwortung und Fürsorge am Lebensende“. Dabei wurde eines deutlich: Neben Arbeitsüberlastung und dem Kampf ums Geld bewegen die Pflegekräfte vor allen Dingen ethisch-moralische Fragen. Wie viel aktivierende Pflege ist für einen Sterbenden gut? Was ist zu tun, wenn ein Mensch sogar Essen und Trinken verweigert?

“Wir stecken immer dazwischen“, klagte eine Pflegekraft. Auf der einen Seite klare Verordnungen des Arztes, auf der anderen die zu Pflegenden mit einem Recht auf Selbstbestimmung. Doch sogar dieser Wille sei bei Schwerstkranken oft nicht mehr erkennbar, sagt Rechtsanwalt und Betreuer Christian Schmieta. „Wegen der meist kurzen Verweildauer können wir den Menschen nicht wirklich kennen lernen. Das ist das Dilemma.“ Häufig stünden die Pflegekräfte in akuten Fällen dann vor wichtigen Entscheidungen, die nur sie alleine treffen könnten, sagt der Betreuer. „Das müssen sie dann verantworten.“

“Unterlassungsängste“ hat die Ärztin Edeltraut Herman-Hirche vom Klinikum Bremen Mitte als großes Problem bei den Fachkräften ausgemacht. Es sei deshalb wichtig, sie verstärkt in palliativer Medizin zu unterrichten, also darin, wie etwa durch Schmerz- und Ernährungstherapie die Symptome bei Schwerstkranken und Sterbenden gelindert werden können.

Noch wichtiger erscheint jedoch, so der Tenor auch in den Diskussionsrunden, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Die Bremer Heimstiftung führt, wie andere Häuser auch, aus diesem Grund in ihren Einrichtungen die so genannte „ethische Fallbesprechung“ ein. Alle für einen Pflegenden Zuständigen erörtern dabei gemeinsam, was im Einzelfall zu tun sei, erklärt die pädagogische Mitarbeiterin Petra Scholz. Bewohnerwille, Therapiemöglichkeiten, Ärzteverordnungen und gesetzliche Bestimmungen werden erörtert, doch auch die persönliche Betroffenheit der Pflegekräfte wird berücksichtigt. Weit seltener haben diese laut Petra Scholz nämlich den Eindruck, nicht genug geholfen zu haben. „Der Druck, nicht aufhören zu dürfen, ist mittlerweile sehr viel größer geworden.“

Auch aus diesem Grund wird die jeweilige Empfehlung aus großer Runde den Angehörigen erst danach in einem klärenden Gespräch mitgeteilt. Bei der eigentlichen ethischen Fallbesprechung seien sie nicht dabei, sagt Scholz. „Das wäre emotional viel zu belastend.“ Achim Graf