Hilflose Gesten

Das ganze Ausmaß des Chemieunfalls im Nordosten Chinas geben die Verantwortlichen nur nach und nach zu

Ungewöhnlich scharf haben selbst staatliche Medien auf die Vertuschung reagiert

BERLIN taz ■ Elf Tage nach der Explosion im Chemiewerk Jilin sind Vertreter der Firmenleitung gestern in die Stadt Harbin gereist und haben sich bei den knapp vier Millionen Einwohnern für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Als Geschenk brachten sie 71 Fässer Mineralwasser mit, berichtete die Zeitung China Daily. Mehr als ein hilflose Geste war das nicht, denn Harbin ist seit Mittwoch ohne Wasserversorgung, weil nach einer Explosion im Chemiewerk Jilin der China National Petroleum Corporation (CNPC) etwa 100 Tonnen Krebs erregendes Benzol in den Fluss Songhua gelangt sind, aus dem sich Harbin mit Trinkwasser versorgt.

Nach der Explosion am 13. November reagierten die Verantwortlichen aus Industrie und Provinzregierung von Jilin äußerst zögerlich und räumten nur nach und nach das ganze Ausmaß der Katastrophe ein. Tagelang hatten Firmenvertreter beteuert, nichts mit der Benzolvergiftung zu tun zu haben. Als in Harbin das Wasser abgestellt wurde, ließen die Behörden die Einwohner über die wahren Gründe zunächst im Unklaren. Gestern wurde zudem bekannt, dass wegen des etwa 80 Kilometer lange Giftteppichs die mehr als 100.000 Einwohner der Stadt Songyuan bereits den sechsten Tag ohne Wasser sind. Zuvor wurde behauptet, die Stadt sei gar nicht betroffen.

Die Einwohner von Harbin versuchen unterdessen, sich mit Mineralwasser zu versorgen, was angesichts des Ausmaßes schnell an Grenzen stößt. Um Wucher zu verhindern, haben die Behörden die Wasserpreise eingefroren. Darüber hinaus kündigte die Stadt den Bau von über hundert Brunnen an. Kurzfristig sollen die Wasserwerke mit Aktivkohle beliefert werden, die jedoch erst beschafft werden muss. Mit Hilfe dieser Kohle, die über eine hohe Filterwirkung verfügt, will man die Wasserversorgung möglichst bald wieder aufnehmen. Doch inzwischen hat die Konzentration von Nitrobenzol im Flusswasser das 30-fache des Grenzwertes erreicht und eine Wiederaufnahme der Wasserversorgung für Harbin, die für heute in Aussicht gestellt wurde, ist nun für Montag vorgesehen.

Ungewöhnlich scharf haben selbst staatliche Medien auf die Vertuschung der Katastrophe reagiert. Angesichts dieser Kritik hat die Regierung in Peking gestern eine hochrangige Untersuchungskommission entsandt, um die Ursachen zu klären.

Inzwischen wurde bekannt, dass es in der südwestchinesischen Region Chongqing zu einer weiteren Explosion in einem Chemiewerk gekommen sei, bei der eine Person ums Leben kam. Chinesische Medien melden, dass mehrere Schulen geschlossen und tausende Menschen evakuiert worden seien.

In der russischen Stadt Chabarowsk am Amur bereitet man sich auf einen Wassernotstand vor, denn der Gift führende Fluss Songhoa mündet oberhalb der ostsibirischen Stadt in den Amur. Dort rechnet man, dass der Giftteppich Anfang Dezember vorbeitreiben wird. Das russische Katastrophenministerium erwartet für Chabarowsk mit seiner halben Million Einwohnern eine 7- bis 10-fache Erhöhung des Grenzwerts für Benzol. Russische Behördenvertreter beklagten, sie hätten von chinesischer Seite keine ausreichenden Informationen erhalten. THG