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Die WahrheitFieselndes Gequieke

Der alltägliche Terror der Straßenmusikanten

Dracula kommt um Mitternacht, und auch das Grauen, von dem hier die Rede ist, beginnt pünktlich zur vollen Stunde - allerdings am helllichten Tag. Wenn du am späten Vormittag an deinem Schreibtisch sitzt und dieser Schreibtisch zufällig in der Nähe der Simon-Dach-Straße in dem beliebten Aus-geh-, Szene- und Soja-Latte-Bezirk Friedrichshain der Weltmetropole Berlin steht, dann wirst du dich dabei ertappen, wie du kurz vor zwölf immer öfter auf die Uhr siehst. Juckreiz und Nackenschmerzen setzen vorauseilend ein, mit einer Hand wühlst du vergeblich nach dem Ohropax, das längst aufgebraucht ist. Denn es ist wieder so weit. Unten auf der Straße seufzt ein Akkordeon auf, die Melodie steigt schwerelos in die Höhe und du erkennst "Bésame mucho". Ein Welthit, ein Klassiker, von den Beatles in die Unsterblichkeit gesungen und von Ralph Siegel mit "Tausendmal möcht ich dich küssen" silbenecht übersetzt. Wikipedia listet über fünfzig Versionen dieser schmachtend eingängigen Melodie auf, aber die Wahrheit liegt auf der Straße.

Die Saison für Straßenmusik beginnt am 1. April und endet am 1. Oktober. 180 Tage lang sind die Anwohner Freiwild für Treibjagden in Dur und Moll, und jeder Tag bringt eine Variante von "Bésame mucho": immer neu, immer anders, immer schlecht. 180 Mal in einem Jahr. Und stets ist es das erste Stück des Tages. Wahrscheinlich haben die Musikanten die Zeitfenster vorab aufgeteilt wie Fluggesellschaften ihre Start- und Landeslots. Oder es gibt ein Zentralkomitee, das in der Winterpause, im traurigen Monat November, festlegt, wie fröhlich das Liedgut der kommenden Saison werden darf.

Selbstverständlich erzeugt die Dauerbeschallung ein unglaubliches Flair, jene Eigenschaft, die Altbauwohnungen in Maklerbeschreibungen besitzen, wenn sie schlecht geschnitten und renovierungsbedürftig sind. Nachdem "Bésame mucho" sorgfältig aufs Rad geflochten wurde, ist alles voll mit Flair. Es klebt an den Wänden und lagert sich in Flusen auf dem Bürgersteig an. Eh einem das Hören und Sehen ganz vergangen ist, ist das Akkordeon weitergezogen. Muss es ja auch, denn es ist Zeit für die Trompeten. Seit dem Massaker am Boxhagener Platz, bei dem 1998 eine ganze Marching Band mit ihren eigenen Blasinstrumenten zu Tode geprügelt wurde, haben die Trompeten einen Dämpfer. Ein Schelm, wer Schalldämpfer dabei denkt. Bei "Round Midnight" von Miles Davis klingt das richtig gut, doch vor dem Fenster werden die schönsten Melodien zur Mittagspause rund gemacht. "Autumn Leaves" wird staubfein zermahlen, "Icecream, Icecream" vertropft in der erbarmungslosen Junisonne.

Nach den Trompeten kommen die Solo-Gitarristen, weiß der Henker, wer sich diese Reihenfolge ausgedacht hat. Wenn sie völlig hemmungslos sind, haben sie ein Fußschemelchen dabei, schließlich wollen sie "Satisfaction" und "Yesterday" in klassischer Haltung durch den Wolf drehen.

Am frühen Nachmittag werden die Besetzungen dann allmählich größer. Marodierende Rock-n-Rollkommandos bauen mit schnellen geschickten Bewegungen kleine Drumsets vor die Tür, auch ein Kontrabass ist dabei. Sieht ja gut aus, so viel Holz. Und dann tobt der Rockabilly durch die Gassen, dass es nur so scheppert. Nicht fehlen darf das Saxofon. Als Bill Clinton Präsident war, verzeichneten deutsche Musikschulen Zuwachsraten von 600 Prozent bei den Saxofonschülern. Mit ihnen konnte man bei jedem Jazz-Workshop eine Aula füllen. Heute bevölkern sie die Straßencafés Europas und haben nur eins im Sinn: improvisieren. Hei, wie das quiekt und fiepselt, dass man gar nicht mehr weiß, wie das Stück ursprünglich geheißen hat. Wenigstens spielen sie nicht Blockflöte.

Zu Kaffee und Kuchen gibt es dann Folk, keltisch, kubanisch oder Klezmer. Im Folk gibt es zwei Sorten von Musikern. Die einen können nicht singen, die anderen spielen lieber Geige. Widerstand ist absolut zwecklos. Die einen krakeelen, die anderen knarzen, beiden verrutscht der Ton. Wehrlos sind die Gäste, die gerade ihre Finger-Food-Platte für zwei Personen serviert bekommen, hilflos sind die Anwohner. Man kann ja nicht woanders hinziehen, bloß weil pausenlos akustischer Sondermüll produziert wird. Und wenn, dann müsste es eine Straße sein, in der der Verkehr so laut ist, dass dort keiner Musik machen möchte.

Tabla, Conga, Triangel, Xylofon, Saz, Klarinette, Oboe, Cello, Harfe, Banjo - das Defilee der Instrumente ist lang, auch tragbare E-Pianos finden ihren Weg. Nur Protestsongs gibt es in Berlin-Friedrichshain nicht. Wogegen will man auch protestieren: "Hey, hey, Servicekraft, der Frozen Yoghurt ist zu warm." Das ist nicht der Stoff, aus dem die Revolte geboren wird. Und einen Reim auf Frozen Yoghurt gibt es auch nicht.

Spätestens ab dem 2. April sehnt man den Herbst herbei. Schließlich ertönt "Bésame mucho" zum letzten Mal, "la ultima vez", wie es im Text hintersinnig heißt. Dann wird es kalt. Und still. Herrlich.

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8 Kommentare

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  • S
    Sendoro

    An armesau

    Hi, so locker wie du dir das vorstellst ist das nicht mit ins Nebenzimmer gehen. Bei mir gehen alle Fenster auf die Strasse. Die Musiker spielen immer genau vor meinem Fenster. Durch die Häuser klingt es so als würden sie bei mir auf dem Valkon spielen, egal ob ich die Fenster schliesse oder nicht. Und bei der Hitze will man doch mal lüften.

    Kaum lege ich meinen 10 monate alten Sohn ins Bett wird er alle 10 min von dieser manchmal zwar schönen, aber ungewollten Musik geweckt. Manchmal sogar noch um 12 Uhr nachts. Ich würde gerne wegziehen, aber leider hab ich nicht das Geld.

    Ich nenne das einfach nur Folter.

  • S
    Sendoro

    An armesau

    Hi, so locker wie du dir das vorstellst ist das nicht mit ins Nebenzimmer gehen. Bei mir gehen alle Fenster auf die Strasse. Die Musiker spielen immer genau vor meinem Fenster. Durch die Häuser klingt es so als würden sie bei mir auf dem Valkon spielen, egal ob ich die Fenster schliesse oder nicht. Und bei der Hitze will man doch mal lüften.

    Kaum lege ich meinen 10 monate alten Sohn ins Bett wird er alle 10 min von dieser manchmal zwar schönen, aber ungewollten Musik geweckt. Manchmal sogar noch um 12 Uhr nachts. Ich würde gerne wegziehen, aber leider hab ich nicht das Geld.

    Ich nenne das einfach nur Folter.

  • T
    tankred

    Der Artikel ist ja noch erstaunlich milde, für jemanden der die Unsitte der aufgezwungenen Musik ertragen muß. Mir langts schon wenn ich in der Fußgängerzone and irgendwelchen Klimper-, Klampf- und Trötenheinis vorbeigehen muß.

    Daß ich dann immer gleich so schlechte Laune kriege liegt vielleicht auch an mir oder dem schlechten Musikgeschmack anderer Leute..

    Mein Beileid lieber Rob.

  • P
    Piet

    @ huev:

     

    Von Neidreflex kann keine Rede sein.

    Im Gegenteil!

    Ich wohne seit 15 Jahren im

    Hamburger Schanzenviertel -

    das ist jetzt auch so ein Sojalatte-Quartier.

     

    Was Sie Neid nennen, das nenne ich schlicht einen Klassenstandpunkt oder Klassenbewusstsein.

     

    Schon mal gehört?

     

    Der Begriff war auch in der TAZ mal wichtig.

     

    Ist allerdings schon sehr lange her.

  • H
    huev

    @ armesau und Piet:

    Erstaunlich, welche Neidreflexe inzwischen doch allein das Geständnis auslöst, in Friedrichshain zu wohnen. Oder seid Ihr nur beleidigte Saxophonisten? Als jemand, der selbst schon mal Straßenmusik gemacht hat, kann ich eigentlich herzlich über den Text lachen. Gut getroffen, Rob!

  • RA
    René Artois

    Das alles ist absolut NICHTS gegen das Grauen, das Ende der 1990er Jahre ein einziger Vietnamese unbestimmten Alters mit eineim einzigen Zahn und einer Geige mit einer einzigen Saite vor den Toren des Kaufhofs in der Würzburger Innenstadt ausgelöst hat. Nach seinem Auftritt war die Würzburger Stadtverwaltung kurzfristig versucht, das Dekret gegen das Füttern der Stadttauben zu lockern.

  • P
    Piet

    Schlimme Sache, das!

     

    Muss echt hammerhart sein,

    in so einem Sojalatte-Quartier

    einen Schreibtisch-Job zu haben.

     

    Wegen der ganzen Straßenmusiker.

     

    Da wünscht man sich doch zügig

    einen Drecksjob im Niedriglohnsektor,

    bei LIDL an der Kasse, in Marzahn.

  • A
    armesau

    lieber rob, deine sorgen möchte ich haben.

    es könnte ja nett klingen, wenn du deine musikkenntnisse auspackst - whoaa, what a gay! dass du in deinem luxusloft (verdienst du soviel bei der taz?) für 3 min von deiner kreativen viertelstunde abgehalten wirst und ins nebenzimmer musst, ist ja schrecklich. doch du weisst auch, dass dir nur noch 7 min fehlen, dann ist dein tagespensum erfüllt. (und dann geht ab zu berlins coolsten sport: kaffeehaussitzen)

    leider sollen wir leser (ein abo ha' ich mir schon lange abgespeckzt) dafür auch noch bezahlen! ne, mit solchen wehwehchen solltest du dich lieber einer selbstfindungsgruppe mit strickbegleitung anschließen.