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Von schlampigen Genies und schönen Verlierern

POWERPOP Für die Ohren der Nachwelt: Das Box-Set „Keep an Eye on the Sky“ lässt die Band Big Star als ihrer Zeit voraus wiederhören

Das frühe Ende von Chris Bell befeuert den Kult um Big Star, die für Fans wie R.E.M.-Gitarrist Peter Buck den Mythos vom Beautiful Loser begründeten

VON THOMAS WINKLER

Könnte die Mathematik den Quotienten ermitteln, der kommerziellen Misserfolg in Beziehung setzt zur künstlerischen Nachwirkung, dann würde nur eine einzige Band noch besser abschneiden als Velvet Underground. Doch während die New Yorker Rock-’n’-Roll-Minimalisten längst ihren Platz in der populären Kultur gefunden haben, sind Big Star bis heute nur Eingeweihten bekannt. Von beflissenen Kritikern aber wird das Quartett aus Memphis als die am meisten unterschätzte Band der Popgeschichte gefeiert und als Referenzpunkt genannt.

Wie es zu dieser dramatischen Diskrepanz kommen konnte, kann man nun mit „Keep an Eye on the Sky“ erforschen. Das Box-Set versammelt alle nennenswerten Aufnahmen der Bandgeschichte. Ergänzt werden die drei Alben „#1“, „Radio City“ und „3rd“ mit bislang unveröffentlichten Demo- und Alternativversionen, einzelnen Soloversuchen von Bandmitgliedern und dem Mitschnitt eines Auftritts aus dem Jahr 1973.

Zu hören ist nun, wie einzigartig der Ansatz von Big Star war und wie einsam diese Band Anfang der Siebzigerjahre dastand. Während sich ihre Zeitgenossen benebelt von weichen Drogen und gen Fernost gerichteter Mystik ausufernden Klangexperimenten hingaben, betonten Big Star damals als altmodisch verschriene Qualitäten. Stets arbeiteten sie eingängige Melodien und tanzbaren Rhythmus, große Gefühle in scheinbar simplen Harmonien heraus.

Diese Einfachheit ist es, die eine immense Kraft entwickelt und viele der Big-Star-Songs wie Klassiker klingen lässt. Power Pop war der hilflose Begriff, der für diese einigermaßen anmaßend wirkende Wiederbesinnung auf das Populäre kreiert wurde. Die aber, so einer der ironischsten Treppenwitze der Popgeschichte, zu ihrer Zeit partout nicht populär werden wollte. An ihrem anhaltenden kommerziellen Versagen zerbrachen Big Star schließlich 1974.

Einmaliger Zwitter

Nur drei Jahre zuvor war die Band entstanden. Alex Chilton hatte als Sänger der Teenieband Box Tops den Welthit „The Letter“ gesungen und war nach einer schnell versandeten Kinderstarkarriere nach Memphis zurückgekehrt. Dort traf er in den Ardent Studios auf Gitarrist Chris Bell, Schlagzeuger Jody Stephens und Bassist Andy Hummel, die dort so etwas wie die Hausband stellten. Zusammen schuf man einen einmaligen Zwitter aus dem Beat der „British Invasion“ und amerikanischen Pop-Entwürfen von den Byrds oder Beach Boys.

Auch die Geschichte von Big Star ist von Drogen geschwängert, allerdings weniger vom Marihuana als von Heroin. Sie leben als versierte Studiomusiker quasi in den Aufnahmeräumen in Memphis und versuchen, die Möglichkeiten der damals noch recht elementaren Mehrkanal-Technik auszuschöpfen. Aber, und das unterscheidet sie von der erfolgreicheren Konkurrenz, Big Star kontrollieren diese zeitgemäßen Einflüsse und ihre Liebe zum Detail mit einem ungebrochenen, bisweilen sogar naiven Willen zum Pop.

Der kristalline Klang ihrer Gitarren macht ihre Qualität aus. Das ist vor allem das Werk von Chris Bell. Eifersüchtig auf den bekannteren Chilton verlässt er allerdings die Band schon nach dem ersten Album wieder und versinkt in Depressionen. Nach einer missratenen Solo-Karriere kommt er kurz nach Weihnachten 1978 bei einem Autounfall ums Leben. Das frühe Ende von Bell befeuert nur den Kult um Big Star, die für Fans wie R.E.M.-Gitarrist Peter Buck den Mythos vom Beautiful Loser begründeten.

Nach dem Ausstieg von Bell übernimmt Chilton uneingeschränkt das Kommando auf dem weiterhin dümpelnden Kahn. Auch später, als Solist, spielt er die Big-Star-Songs am liebsten in möglichst zerstörten, unbehauenen, ja geradezu bösartig nachlässigen Versionen und begründet damit seinen Ruhm als verkannter Vordenker des Punk. Ein Ruhm, den selbst die Reunion von Big Star seit 1993 nicht schmälern kann.

Tatsächlich ist der mittlerweile 58-jährige Chilton als Sänger von „The Letter“ und als Autor von „September Gurls“ und „Bangkok“, drei der am häufigsten gecoverten Songs aller Zeiten, verantwortlich für einige grandiose Momente der Popgeschichte. Noch mehr aber waren es wohl das kommerzielle Versagen von Big Star und Chiltons Heroinsucht, der zu seiner Kür zum Helden des Underground führte. Jede dritte Indie-Band nennt Chilton als Einfluss. Bis heute werden seine Songs gecovert von Wilco, Jeff Buckley, Cheap Trick, den Bangles, Garbage, Son Volt oder Placebo. Die Replacements schrieben gar einen Song mit dem Titel „Alex Chilton“.

Die vier CDs von „Keep an Eye on the Sky“ allerdings enthüllen eher, was hätte werden können, welch schlussendlich verschwendetes Talent damals eine erste, überaus kurze, aber wundervolle Blüte erlebte.

■ Big Star: „Keep an Eye on the Sky“ (Rhino/Warner)

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