TRAURIGES HERBSTLIED
: Rhythmus verloren

Es sind immer wieder diese Mysterien

Es ging jetzt seit fünf Tagen so. Der Rhythmus der Welt da draußen war einfach ein anderer. Unsere Takte bewegten sich sozusagen diametral zueinander. Am Ostkreuz waren die Treppenstufen steil und rutschig und aus Metall, und ich stellte mir vor, hinabzustürzen. Mein Körper versuchte mich zu provozieren, indem er nur die nötigsten Bewegungen ausführte. Immer kurz davor, die Beine nicht hoch genug zu heben. Immer kurz vorm Fall.

Ein paar Stationen weiter zeigte sich wie jeden Tag das „Mysterium Alexanderplatz“. An keiner anderen Haltestelle versuchen die Menschen so stur gleichzeitig ein- und auszusteigen und blockieren sich damit gegenseitig den Weg. Welch unsinnige Kraftverschwendung. Dabei könnte das Leben so viel einfacher sein, wenn man sich an ein paar wenige Regeln hält. Am Alexanderplatz aber stehen die Menschen nicht nur vor der sich öffnenden Zugtür, sondern sie stehen auch zu zweit nebeneinander auf Rolltreppen. Es ist zum Verzweifeln.

An diesem Morgen hatte sich alles aufgelöst. Freier Fall. Das wird schon wieder. Klar. Das Kotzgefühl ließ sich mit Zigaretten auf eine feierliche Art steigern. Es musste schnell kalt werden. Das würde reinigen. Weil nämlich Lügen einen dritten Rhythmus in das verdammte traurige Herbstlied gebracht hatten.

Jemand sagte was von Zeit. Man selbst sagte was von gehen lassen und wusste nicht mal, was das heißt. Es sind immer wieder diese Mysterien, die nichts einfacher machen, sondern nur das Überleben sichern. Von Überraschung zu Überlegung. Deine Wahrheit, meine Wahrheit. „Irgendwie gibst du mir so eine Art Basis, auf der ich Anderes hassen kann“, sagte dann jemand das schönste Kompliment seit Wochen. Aber wie ging dieser Rhythmus da draußen denn überhaupt noch mal. Schon wieder war der Einsatz verpasst worden. LAURA EWERT