Vollgas statt Fehlzündungen

STARTHILFE Im Rennteam „Race-Project“ bekommen Schulabbrecher eine neue Chance, sich zu beweisen. Früher hat niemand an die Jugendlichen geglaubt. Jetzt kämpfen sie gemeinsam darum, ihren Meistertitel zu verteidigen

VON ANNA PATACZEK

Der eigene, innere Motor läuft nicht im Takt. Aber mit ihrem Rennofen überholen die Jugendlichen vom „Race-Project“ aus einem kleinen oberbayerischen Dorf gestandene Rennprofis. In dem Team, das seit drei Jahren bei der wichtigsten Rennserie im Motorrad-Breitensport antritt, ist alles ein bisschen anders: Die BMW ist eigentlich keine richtige Rennmaschine und die Mechaniker sind bis auf den Leiter des Teams keine ausgebildeten Fachkräfte, sondern Jungen und Mädchen, an die bis zu dem Zeitpunkt keiner so richtig geglaubt hat. Weil sie „Scheiße gebaut haben“, wie viele von ihnen sagen, die Schule schwänzten und schließlich ganz abbrachen. Manche können die Finger von Drogen nicht lassen. Um wieder vom Fleck zu kommen, brauchen sie „Starthilfe“.

So heißt ein Förderprogramm des Kreisjugendrings und der Arbeitsgemeinschaft Fürstenfeldbruck, 25 Kilometer westlich von München, das ihnen den Einstieg in das Berufsleben erleichtern soll. Ein Teil dieses Projekts ist auch die Teilnahme am Rennen des Deutschen Motorsport Bundes. In diesem Jahr haben es die Jungs und Mädchen allen gezeigt, die nicht mehr an sie geglaubt hatten: Sie sind Deutscher Meister geworden.

Endlich das eigene Leben in den Griff bekommen

Der 20-jährige Bibo will den Titel 2010 natürlich verteidigen. Einerseits. Andererseits hat er sich noch einen viel größeren Sieg vorgenommen. Sein Leben zu sortieren. Den Hauptschulabschluss nachzumachen. Und endlich eine Ausbildung zum Rettungssanitäter anzufangen, so wie er sich das gewünscht hatte. Doch Bibo hatte vor zwei Jahren die Schule abgebrochen, stand ohne Abschluss da. Jetzt ist Bibo einer der Neuen im „Starthilfe“-Team.

Jeden Herbst findet sich eine neue Gruppe zusammen, die von einem Team von Lehrern, einem Diakon und einem Kfz-Meister geleitet wird. Mädchen kommen seltener ins Dorf Überacker, wo sich das Werksgelände der „R+R Fahrzeugtechnik“ befindet und der Unterricht stattfindet, wo die Jugendlichen praktische Aufgaben bewältigen und pauken müssen. Dieses Mal sind neun dabei, zwischen 17 und 21 Jahre alt. Früher, sagt Bibo, habe er sich hängen lassen. Das wird jetzt anders werden. Er weiß, „die Starthilfe ist meine letzte Chance.“

Nicht alle schaffen es, bis zum Schluss durchzuhalten. Wer große Drogenprobleme hat, immer wieder fehlt – der muss gehen. Geschenkt bekommen die Jugendlichen nichts. Vormittags gibt ihnen ein Lehrer in einem kleinen Schulraum neben der Werkstatt Unterricht, Mathe und all die anderen mehr oder weniger beliebten Fächer.

Aber die Jungs und Mädchen lernen auch, wie es ist, in einem normalen Betrieb mitzulaufen, dass man zu Kollegen freundlich „Grüß Gott“ sagt. Und sie entdecken während der Arbeit ihre Talente. Wenn es beispielsweise darum geht, Sponsoren für das Rennteam an Land zu ziehen oder das Motorrad komplett umzurüsten. „Schulische Qualifikation“, „technische Qualifikation“ und „soziale Befähigung“ heißt das im Pädagogen-Sprech.

David zum Beispiel. Er gehörte letztes Jahr zur Starthilfe-Gruppe. Für die Rennmaschine hatte er einen neuen Rahmen geschweißt – und sich dabei so gut angestellt, dass R+R-Werkstattleiter Peter Steger zu ihm sagte: „Wir übernehmen dich als Lehrling.“ Unter einer Bedingung: Er müsste am Ende des Jahres seinen Schulabschluss schaffen.

Und er hat ihn geschafft. Jetzt macht der 21-Jährige eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Die, die durchhalten, sind Teil einer Erfolgsgeschichte. Das kleine Wunder von Überacker. Nicht nur wegen ihrer Motorrad-Siege auf höchstem technischen Niveau. „Bisher haben fast alle den Abschluss oder sogar einen Quali geschafft“, sagt Ulrich Gottwald vom Kreisjugendring, der die „Starthilfe“ zusammen mit dem Kfz-Meister Peter Steger leitet.

Früher Altflöte, heute Rap und Hip-Hop

„Ich habe schon manchmal noch Angst, dass ich mich nicht genug reinhänge“, sagt Bibo. Er hat lange gefaulenzt, das weiß er selbst. In der Familie gab es Stress, da wollte er wenigstens für seine Kumpels da sein. Als Ersatz. Also hing er lieber mit seinen Freunden ab als morgens in den Unterricht zu gehen. Die Lehrer auf der Rudolf-Steiner-Schule ließen ihn an der langen Leine. Bibo hatte eigentlich einen guten Ruf, als Theaterspieler und Zeichner. „Dabei hätten sie mir Druck machen müssen“, glaubt er.

Als Kind hat Bibo Altflöte und Klavier gespielt. Jetzt macht er Rap und Hip-Hop, will seine Musik aber nicht so bezeichnen. „Die meisten erzählen doch so Ghettogeschichten“, findet er. Aggressiv und pervers. „So einer bin ich nicht.“ In seinen Texten drückt er seine Gefühle aus. „Auf der Suche nach dem Gleichgewicht“, so will er sein Album nennen, an dem er gerade arbeitet.

David hat sein Gleichgewicht schon gefunden. Aber „es war keine leichte Zeit“, erinnert sich der 21-Jährige. „Ich hatte Höhen und Tiefen.“ Es gab Tage, da wartete der Starthilfe-Bus vergeblich am Bahnhof, um ihn abzuholen. „Ich war einfach im Kopf nicht so fit“, sagt David.

Auch seine Geschichte ist eine vom schleichenden Hineinrutschen in die „Scheiße“. David kommt ursprünglich aus Sachsen, dort hatte er eigentlich schon eine Lehrstelle gefunden. Und die falschen Freunde. Er gehörte der Neonazi-Szene an. Heute ist er Aussteiger. „Sonst wäre ich gleich in den Knast gewandert.“

Die Polizei nimmt ihn ins Zeugenschutzprogramm, David setzt sich von einem Tag auf den anderen mit einem Rucksack voll Klamotten in den nächsten Zug zur Tante nach Bayern. Nur weg. Auch wenn es ihm sehr schwerfiel. Und jetzt: der Abschluss, die Lehre, die Rennen. Als er noch zu Hause wohnte, hätte er das alles nicht für möglich gehalten, sagt David.

Dieses Geräusch macht Herzklopfen

Die frühe Morgensonne steht glitzrig über der Rennstrecke. Die Motoren laufen sich warm, jaulen auf. Später werden sie mit scharfem, aggressivem Zischen an der Boxengasse vorbeirasen. Dieses Geräusch macht Herzklopfen. Man hört es mit dem Körper. Die Jungs strecken ihre Köpfe durch den Zaun, jubeln, wenn ihr Fahrer Bernd Papilion vorbeizieht. Er ist Entwickler und Testfahrer bei BMW. Für das Race-Project setzt er sich ehrenamtlich auf das Motorrad.

Das Leben in der Box, wo die Jugendlichen auch übernachten, essen und schrauben, hat seine eigenen Regeln. Keiner fragt nach der Vergangenheit. Was zählt, sind der nächste Reifenwechsel, Schrauben in Sekundenschnelle, Probleme lösen, wenn die Technik spinnt, Teamgeist.

Es gibt ein Foto von der vergangenen Rennsaison, auf dem die ganze Gruppe mit ihren schwarz-gelben T-Shirts zusammensteht. Die Erwachsenen lächeln in die Kamera. Die Jungs kucken zurückhaltend, scheu. Ihren Stolz kann man trotzdem sehen. „Das geilste Gefühl ist es, wenn man morgens ganz früh aufsteht, das Rolltor der Box hochfährt und man die Tribüne sehen kann“, findet David.

Die Kenner behalten die Jungs im Auge

Die Nachbarn an der Rennstrecke sind grauhaarige Männer, breitschultrige Haudegen auf ihren Aprilias und Ducatis – rasante Öfen im Vergleich zur BMW der Starthilfe. Und trotzdem kommen immer wieder Neugierige bei dem seltsamen Grüppchen vorbei. Die Kenner beäugen das Werk der Jungs, das schlanke Heck, den Motor, die aerodynamische Verkleidung. An der BWM S 1000 RR bleibt nichts, wie es einmal war.

Unter Anleitung entwerfen die Jugendlichen eine windschnittige Karosserie aus Flugzeugstahl und motzen den Motor auf – unnötige Details wie der Blinker fliegen raus. Die Maschine muss vor allem eines sein: leicht. Gesponsert wird sie vom Hersteller. Ein großer Vertrauensbeweis, schließlich kam das Motorrad erst diesen Dezember auf den Markt, damals war es noch ein Prototyp – der dank der Jugendlichen nun schon einen Titel eingefahren hat.

Nie wieder soll es im Leben schlechter werden

Zurzeit macht die Rennsaison Pause. Erst im Mai geht es wieder los. Doch bis dahin gibt es genug zu tun. Bibo, David und die anderen Jungs pimpen den Bus, mit dem sie an den Rennwochenenden durch ganz Deutschland fahren. Innerhalb von zwei Wochen nehmen sie das komplette Gefährt auseinander. Erste Fingerübungen für die harten Bedingungen in der Box.

Unter Anleitung lernen sie schweißen, schleifen, lackieren. Der Bus wird knallorange, mit rasanten schwarzen Streifen und getönten Scheiben. Das macht auch Bibo Spaß, der ja eigentlich Rettungsassistent werden will. Ihn interessiert einfach, herauszufinden, wo man Hand anlegen muss, um etwas zu reparieren. Sei es nun an einem gebrochenen Arm oder einem kaputten Autoteil. „Jedenfalls viel besser als Schule“, sagt er.

Findet auch David. 2010 steht dem Lehrling seine Zwischenprüfung bevor. Die will er gut bestehen. Das Wichtigste sei einfach, das alles besser werde. Nie wieder schlechter.

ANNA PATACZEK, 27, geboren in Starnberg, Absolventin der Berliner Journalisten-Schule. Sie lebt in Berlin