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die wahrheitLumpen für Gera

Humanitäre Hilfe: Nächstenliebe beginnt vor der eigenen Haustür.

Zum Missfallen der Helfer werden viele Lumpen auf dem Schwarzmarkt zu Wucherpreisen weiterverkauft. Bild: ap

Ronny nimmt Anlauf und tritt schwungvoll gegen eine mit grauem Pfützenwasser gefüllte Plastikflasche. Sie schlittert kratzend über den Bahnhofsvorplatz und landet mitten unter einer Parkbank, auf der ein steifgefrorener Obdachloser liegt. "Des worn Dooor!", freut sich der aufgeweckte Achtjährige. Plastikflaschenball ist das Einzige, das noch etwas Freude in seinen von Hunger und Gewalt geprägten Alltag bringt. Und es lässt ihn von einer besseren Welt träumen - vielleicht sogar von einer internationalen Karriere als Plasteprofi. Dabei weiß der kleine Ronny nicht, dass niemand außerhalb der krisengeschüttelten ostzonikanischen Republik Zentral-Gera seinen Lieblingssport überhaupt kennt.

Plötzlich schreckt Ronny hoch, seine Instinkte erwachen und er flieht Hals über Kopf in die nächste Wellblechhütte zwischen den stillgelegten Bahngleisen. Und sofort wird klar, wieso: Eine Bande in Felle und Verpackungsreste gehüllter Kleinkrimineller betritt den Platz und steuert direkt auf den erstarrten Obdachlosen zu. "Nimm de Schuhä, isch schau, obbä was in de Daschen hat!", raunzt der Anführer einem abgemagerten Kollegen zu. Sie plündern routiniert die Leiche. Nicht einmal Ronnys Plastikflasche bleibt verschont, einer der Banditen trinkt sie in einem Zug leer und wirf sie ins Gebüsch. Dann verschwinden sie so schnell, wie sie gekommen waren, ins Nirgendwo.

Es ist ein erschreckendes Bild, das unbedarfte Besucher schnell verstören kann. Die elenden Verhältnisse, in denen die Menschen hier leben müssen, lassen sich nur schwer in Worte fassen. Besonders grausam erscheint es, dass die kleine Republik Zentral-Gera von der Welt anscheinend einfach vergessen wurde. Niemand interessiert sich für die dramatischen Zustände, obwohl Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt hier an der Tagesordnung sind und jedem mit nur einem Hauch von Mitgefühl unweigerlich die Tränen in die Augen treiben müssten.

Ein Mann, der dem Elend ein Ende machen will, ist Hubert Rosta, ein pensionierter Studienrat aus Celle. Ganz in der Nähe des Geranischen Bahnhofs hat er ein Büro, von dem aus er der geplagten Bevölkerung helfen will. "Humanitäre Hilfe fängt vor der Haustüre an", sagt er stolz und erklärt, warum er es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, den Menschen in Gera wieder eine Zukunft zu geben. "Es geht mir vor allem um die armen Kinder, die hier nichts kennen - außer Hass und Gewalt."

Seine relativ junge Hilfsorganisation "Lumpen für Gera" sammelt seit einigen Monaten fleißig alte Stofffetzen und Lappen ein, die hier, in einer der ärmsten Regionen der Thuringa-Halbinsel, dringend gebraucht werden. Vor allem jetzt, wo wieder ein harter Winter vor der Tür steht, heißt es schnell zu handeln. Doch nicht nur das Lumpensammeln zählt zu den dringenden Aufgaben der LfG-Organisation, ihr Anliegen ist es auch, die schlimmen Zustände ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. "Viele wissen ja nicht einmal, wo genau in Ostzonikan die Republik Zentral-Gera überhaupt liegt", erklärt Rosta traurig, "geschweige denn, wie untragbar die Verhältnisse hier geworden sind."

Mehr als 20 Jahre ist es nun schon her, dass das autoritäre Regime zusammengebrochen ist, welches jahrzehntelang den ganzen Kontinent im Würgegriff hielt. Doch nach heftigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zerfiel das einstige Hoheitsgebiet - in kleine Stadtstaaten einerseits und verwaistes Ödland andererseits.

Hubert Rosta besteigt einen großen klapprigen Traktor, an dem hinten ein prallgefüllter Lumpenanhänger angekoppelt ist. Es ist Zeit für seine wöchentliche Tour durch die Armenviertel. Kaum hat er mit dem rumpelnden Vehikel die Baracke verlassen, haben ihn die Eingeborenen bereits erspäht und kommen aus allen Richtungen herbeigehumpelt. Mit gierigen Blicken mustern sie die neue Lumpenladung und zerren an den Säcken. "Aus, pfui!", ruft Hubert, doch es nützt nichts. Schon schaukelt der Anhänger bedrohlich und die ganze Ladung rutscht herab. Binnen Minuten ist nichts mehr übrig und die frisch belumpten Geranier verziehen sich wieder in ihre Hütten. Nur ein kleiner Junge bleibt einsam zurück und sucht verzweifelt den Bahnhofsplatz ab. Es ist Ronny. Hubert kann den Anblick nicht ertragen, er knotet ein paar Lumpen aus seinem heimlichen Privatvorrat zusammen und wirft sie zu Ronny hinüber, der sie mit Begeisterung auffängt. Und seit diesem schicksalhaften Augenblick träumt der Kleine von einer Karriere als professioneller Lumpenballer.

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2 Kommentare

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  • K
    Kitty

    Wenn Sie dann durch Sachsen und Thüringen durch sind, nehmen Sie dann Brandenburg? Was ist denn das bitte für eine lausige Kolumne?

  • R
    Radiowaves

    Der arme Herr Rosta... da müht er sich nun so ab und das an völlig falscher Stelle. Wäre er doch auf seinem Weg gen Osten 45 Kilometer eher stehengeblieben, im ostzonischen Jena. Dort herrscht im Herbst immer bittere Not, denn es gibt nicht genug Hütten für die Insassen, die sich im Ghetto von Jena drängen. Vor allem die jungen Flüchtlinge, Studenten genannt, stehen oft mit Schlafsack und Isomatte traurig abends vor der Tür der nur tagsüber geöffneten Wärmestube namens Universität und wissen nicht, wo sie die Nacht verbringen sollen. Aber auch die so heiß umworbenen sogenannten "Fachkräfte" bis hin zu Doktoren, haben mitunter nichts als das Büro, in dem sie sitzen, können sich aber immerhin damit trösten, im "Leuchtturm des Ostens" gestapelt zu sein. Alle Abstell- und Speisekammern der Stadt sind bereits zu Preisen bis zu 40 Euro/qm mehrfach belegt, ebenso die martialischen Wohnsilos, die der auf der A4 Vorbeifahrende als "Jena" kennt. Manche Studenten schritten schon zum äußersten und zogen als Nomaden nach Gera weiter, trafen dort niemanden in Lumpen, fanden dafür dort sowohl einen Bahnhofsvorplatz (Jena hat gar keinen) als auch anständige Unterkünfte.

     

    Herr Rosta, steigen Sie um! Nicht Lumpen für Gera, sondern Hütten für Jena wäre ein erstrebenswertes Ziel. Oder Hirne für Politiker, damit sie in den kommenden Jahrzehnten nicht weiter solchen entwicklungspolitischen Unsinn verzapfen wie den, ganz Thüringen in eine Kleinstadt mit Tallage pressen zu wollen.