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Kreditwirtschaft in China"Irgendwie kommen wir immer durch"

Wenzhou, Chinas heimliche Hauptstadt der Privatwirtschaft, funktionierte lange mit einem informellen Kreditsystem. Krise und Geldgier haben das System gekillt.

Strukturelles Problem: Viele kleine Betriebe in Wenzhou konnten sich nur mit Hilfe informeller Geldleiher finanzieren. Bild: reuters

WENZHOU taz | Das Büro von Herrn Wang liegt im Osten Wenzhous, in einer schmucklosen Industriegegend zwischen Geschäftshäusern und Werkstätten, deren Wände das feuchtwarme Klima graugrün gefleckt hat. Wang stellt Rohre und andere Gerätschaften aus rostfreiem Stahl her.

In den Schuppen draußen lagern Metallreste. Neben dem Schreibtisch mit dem Computer, vor dem der Mittvierziger oft sitzt und unablässig auf seinem Handy tippt, stehen ein schwarzes Kunstledersofa und ein Doppelbett - im Wenzhouer Alltag gehen Arbeit und Privatleben nahtlos ineinander über.

Heute hat Wang drei Leidensgenossen zu Besuch: Unternehmer, die wie er in den letzten Wochen viel Geld verloren haben. Kennen gelernt haben sich die vier nach der Flucht einer Frau, die sie teuer zu stehen kam. "Das hätte ich nie von ihr gedacht", sagt Wang. "Sie war doch immer so vertrauenswürdig."

"Sie" - das ist Zheng Zhuju. Die 49-jährige Mutter von zwei Söhnen gehörte bis vor kurzem zu den Stützen der Geschäftswelt von Wenzhou. Sie besaß nicht nur die "Hundertfaches Glück"-Ladenkette für Haushaltsgeräte. Sie arbeitete auch als informelle Bankerin. Bei ihr erhielt man schnell Kredit, wenn die staatlichen Geldhäuser sich knauserig zeigten - und das taten sie eigentlich immer bei kleinen Privatunternehmern ohne Beziehungen zu hohen Funktionären.

Bei ihr konnten die Kaufleute von Wenzhou aber auch Geld lukrativ anlegen. Zheng versprach deutlich höhere Zinsen, als die Banken boten. Das war zwar nicht legal, ging aber jahrelang gut. Es wurde von den Behörden geduldet, alle waren zufrieden.

Doch im August verschwand die Geschäftsfrau spurlos - und mit ihr das Vermögen, das Wang und viele andere ihr anvertraut hatten. "Ich bekam einen Anruf von Freunden und bin schnell zum ,Hundertfaches Glück'-Laden gelaufen", erzählt Wang. "Aber dort war niemand mehr, die Türen waren geschlossen, und davor standen viele Leute und schrien, dass sie ihr Geld wiederhaben wollten."

Grauer Kreditmarkt

Das Problem: Kleine und mittlere Unternehmen haben in China deutlich größere Schwierigkeiten, an Kredite der zumeist staatlichen Banken zu kommen. Denn diese dienen in erster Linie den großen Staatskonzernen. Hinzu kommt die Antiinflationspolitik: Um das rasante Wachstum zu dämpfen, hat die Notenbank nicht nur die Zinsen angehoben, die Banken haben auch weniger Geld zu verleihen und sind bei den Kunden noch wählerischer als sonst.

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Die Größenordnung: Die Verschuldung bei Untergrund- und Schattenbanken ist in China ein Massenphänomen. Einer Studie der Schweizer UBS-Bank zufolge summieren sich die Kredite auf umgerechnet bis zu 450 Milliarden Euro, das sind 10 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. In Wenzhou sind 90 Prozent aller Haushalte und 60 Prozent aller Unternehmen in informelle Kreditgeschäfte verwickelt, schätzt die chinesische Notenbank.

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Der Missbrauch: Zuletzt wurde ein großer Teil der Kredite in Schenzhou nicht mehr zur Unternehmensfinanzierung herangezogen, sondern in riskante Spekulationsgeschäfte unter anderem auf dem Immobilienmarkt gesteckt.

Berichte über Pleiten und geflüchtete Firmenchefs häufen sich

Die Geldverleiherin Zheng war nicht die Einzige, die sich in diesen Wochen im Spätsommer aus dem Staub machte und verstörte Gläubiger hinterließ. Doch ihr Fall ist beispielhaft. Wenzhou, das einst gerühmte Paradies der Privatunternehmer an der Ostküste Chinas, geriet plötzlich in die Schlagzeilen.

In den Zeitungen und örtlichen Webseiten häuften sich Berichte über Pleiten und geflüchtete Firmenchefs, die ihre Fabriken und Angestellten mit einen Schuldenberg zurückließen, weil ihnen selbst das Geld abhandengekommen war. Andere konnten plötzlich die hohen Zinsen von privaten Geldverleihern nicht mehr bezahlen. Ein Unternehmer sprang vom Dach seiner Firma in den Tod.

Die Nachrichten von den Wenzhouer Pleiten sorgen in China, das mit seinem Wirtschaftswachstum von mehr als 9 Prozent erstaunlich problemlos die letzte Weltfinanzkrise zu meistern schien, für erhebliche Beunruhigung: Die Finanzzeitschrift Caixin schrieb von einem "Crashtest" für die private Wirtschaft des Landes. Und auch Experten aus dem Ausland fragen sich: "Ist das der Anfang vom Ende des chinesischen Wirtschaftswunders?"

Um die Gemüter zu beruhigen, eilte Premier Wen Jiabao Anfang Oktober höchstpersönlich in die Stadt. Er forderte die staatlichen Banken auf, bedrängten Unternehmen großzügig unter die Arme zu greifen. Die Provinzbehörden kündigten an, einen Hilfsfonds zu schaffen.

Berühmt und auch ein wenig verrufen

Die Fünf-Millionen-Einwohnerstadt Wenzhou, knapp 1.800 Kilometer südlich von Peking, ist kein gewöhnlicher Ort: Sie gilt als heimliche Hauptstadt der Privatunternehmen in China, rund 400.000 Firmen sind hier registriert, die meisten von ihnen kleine und mittlere Betriebe.

Ihre Chefs sind für Geschäftstüchtigkeit berühmt und auch ein wenig verrufen. Seit den achtziger Jahren versorgen sie nicht nur die eigenen Landsleute, sondern die ganze Welt mit billigen Knöpfen, Feuerzeugen, Kugelschreibern, Reißverschlüssen.

Als sich der Rest Chinas noch an die Planwirtschaft klammerte, verwandelten Wenzhouer Familien ihre Wohnzimmer und Hinterhöfe bereits in Kleinfabriken. Schnell entstanden immer neue Werkstätten, oft wild durcheinander, eng zusammengebaut, in einer Stadt, die an nichts anderes als ans Geldverdienen zu denken schien.

Die nötigen Yuan für ihre Investitionen sammelten sie unter Verwandten und Freunden. Dieses informelle Kreditsystem funktionierte per Handschlag. "Jeder half jedem, Schriftliches war nicht nötig", sagt Eisenfabrikant Wang.

Die traditionellen Geschäfte gehen schlechter

Das klappte so gut, dass die Wenzhouer bald als typisch Neureiche in ganz China bekannt und - je nachdem - beneidet oder von oben herab behandelt wurden. Durch den chaotischen Verkehr schlängelten sich immer mehr Luxusschlitten, darunter Maybachs, Maseratis und mindestens ein auf fast zehn Meter verlängerter Hummer-Jeep.

Seit einiger Zeit allerdings ändert sich die Situation in Wenzhou wie überhaupt in China: Die traditionellen Geschäfte gehen schlechter. Mit ganz billigen Feuerzeugen oder Wasserhähnen ist kaum noch etwas zu verdienen, denn die Löhne steigen.

"Die Arbeiter wollen innerhalb eines Jahres 20 oder sogar 30 Prozent mehr verdienen", so Großhändler Zhu Fang, der ebenfalls zu den Opfern der geflüchteten Untergrundbankerin gehört. "Dann bleibt nichts mehr."

Dennoch überlebten die meisten Wenzhouer Firmen - wenn auch mit staatlicher Hilfe: Als die Regierung im Jahr 2008 ihr gewaltiges Konjunkturpaket von rund 460 Milliarden Euro schnürte und die Banken anwies, großzügig Kredite zu vergeben, floss das Geld auch in Wenzhou üppiger als je zuvor.

Dann kam das schnelle Geld mit Immobilien

Doch viele Unternehmer steckten das geborgte Geld nicht etwa in die Modernisierung ihrer Fabriken oder die Entwicklung neuer Produkte. Stattdessen investierten sie in Immobilien. Die Häuserpreise stiegen damals so schnell, dass sich mit dem Kauf und Verkauf von Wohnungen in kürzester Zeit viel mehr verdienen ließ als mit traditionellen Firmengeschäften.

Manche Kunden trugen das bei regulären Kreditinstituten billig geborgte Geld umgehend zu Geldverleihern wie Frau Zheng, die ihnen höhere Zinssätze versprachen. Folge: Die Untergrundbanker jonglierten plötzlich mit viel größeren Beträgen als je zuvor. Das Schneeballsystem funktionierte aber nur, solange immer neue Kunden Geld einbrachten.

In diesem Jahr jedoch zog die Regierung aus Angst vor wirtschaftlicher Überhitzung und Inflation die Kreditbremse. Zugleich sanken in Wenzhou wie in vielen anderen Städten Chinas die Hauspreise kräftig: "Für eine Immobilie, die 2010 noch 15.000 Yuan pro Quadratmeter kostete, bekomme ich jetzt nur noch 12.000 Yuan", sagt Maklerin Dong Yuying, die ein kleines Büro in einer unscheinbaren Seitenstraße Wenzhous hat. "Und ich bin sicher: Wir sind noch nicht unten angekommen."

Am Ende siegt der Lokalpatriotismus

Für viele Geschäftsleute wurde es wieder schwieriger, Geld von den Banken zu bekommen - folglich versiegte auch der Kapitalfluss an die Untergrundbanker. Sie konnten die ihnen anvertrauten Summen nicht mehr rechtzeitig zurückzahlen.

Frau Zheng steckte im August so stark in der Klemme, dass sie ihre Geschäfte schloss und sich aus dem Staub machte. Im September spürte die Polizei sie in einem Vorort von Wenzhou auf, seither sitzt sie hinter Gittern.

Internetaktivisten haben eine Liste der Opfer von Frau Zheng zusammengestellt: "Ungefähr 90 Leute haben zusammen rund 300 Millionen Yuan (über 30 Millionen Euro) verloren", berichtet Unternehmer Wang, dem "ein paar hunderttausend Yuan" fehlen.

Wang und seine drei Schicksalsgenossen fühlen sich beim Gespräch deutlich unwohl. Sie könnten von den Behörden Ärger bekommen, "weil wir mit ausländischen Journalisten sprechen", sagen sie. Deshalb wollen sie auch nicht den Namen ihrer Firmen nennen.

"Wir dürfen kein schlechtes Licht auf unsere Stadt werfen, das Investitionsklima könnte darunter leiden", sagt einer. Richtig böse seien sie Frau Zheng eigentlich nicht, obwohl sie ihr Geld "natürlich gern zurück hätten". Dafür haben sie der Verleiherin zu viel zu verdanken.

Am Ende siegt denn auch der Lokalpatriotismus über den Ärger über den Verlust des Geldes: "Wir Wenzhouer kommen immer durch, wir können uns anpassen. Das war unsere Stärke, und das wird sie bleiben."

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1 Kommentar

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  • XZ
    Xie Zeren

    Was wollen Sie uns eigentlich sagen, Frau Lietsch? Die Wirtschaft Chinas und im Gefolge möglicherweise die Weltwirtschaft geht den Bach 'runter? Wohl kaum, das wäre bei der Tiefe Ihrer Recherchen allerdings etwas hoch gegriffen.

    Daß der chinesische Staat das "Wenzhou-Modell", wie es ja wohl einschlägig genannt wird, nicht gefördert hätte. Das wäre mit Sichheit falsch. Da muß man nur auf die Website der Stadt gehen, um festzustellen, daß es eigene Ämter für die Anliegen und Förderung der privatwirtschaftlichen Betriebe gibt. auch mußten schon frühzeitig entsprechende Gesetze und Verordnungen auf den Weg gebracht werden, denn Privatwirtschaft in größerem Umfang fällt in einem sozialistische System nicht vom Himmel (einen Mauerfall oder ähnliches wie in der SU hat es bekanntlich niht gegeben).

    Von all dem in dem Artikel kein Wort, auch erinnere ich mich nicht, vorher entsprechende Informationen über die Stadt und ihre Entwicklung in der taz gelesen zu haben (übrigens auch nicht in nennenswertem Umfang in anderen Medien - auf arte kam mal eine Dokumentation, in der die Stadt als die Stadt der Schuhproduktion vorgestellt wurde!).

    Das nenne ich Mainstream-Journalismus pur. Leider ist die taz in bezug auf ihre Berichterstattung zu Mittelland immer ein Mainstream-Medium geblieben. Da ergänze ich nur noch: ein Fünftel der Menschheit wird gebasht... ( und: Warum lesen Chinesen in Deutschland nicht die taz? nur um dem Argument vorzugreifen, man könne es schließlich nicht jedem Recht machen).