Kulturjournalist über Occupy Wall Street: "Wir mobilisieren Zaungäste"
Mark Greif vom amerikanischen Kulturmagazin "n+1" über Demokratie, Reality-TV, die Utopie im Zuccotti-Park und saubere Unterwäsche.
taz: In Europa wird die Demokratie gerade mit Füßen getreten. Wird sie in den USA von der Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS) dagegen neu erfunden?
Mark Greif: So weit würde ich nicht gehen. Aber die Bewegung ist mit ihrem Slogan "Wir sind die 99 Prozent" und ihrer Organisationsform sehr integrativ. Ein typischer Spruch von New Yorkern, die die Stadt verlassen müssen, lautet: "Oh Gott, ich muss nach Amerika." OWS hat den Amerikanern gezeigt, dass sie durchaus Gemeinsamkeiten haben, mindestens in der Frage der Regulierung der Banken und der Finanzsysteme. Statt Sprechchören, die sich an die Leute draußen richten, forderten die Organisatoren die Leute auf, kleine Gruppen zu bilden, die darüber reden sollten, warum sie hier sind. Vielleicht wird aber auch das Einzige, was von der Bewegung übrig bleibt, der Effekt sein, dass andere Politiker sich ermutigt fühlen, im Namen dieser Leute zu reden.
Obama hat es bisher jedenfalls nicht getan. Warum?
Niemand versteht, warum er jetzt, wo alle Leute Taten und Veränderung fordern, schweigt.Viele Amerikaner haben ihn längst aufgegeben.
Seit fast zwei Monaten ist der Zuccotti-Park in New York nun besetzt. Wie ist die Stimmung dort?
Das ändert sich alle zehn Tage. Es gab in den vergangenen Wochen diverse Konflikte zwischen den Trommlern und den Leuten, die in Ruhe reden wollen, zwischen den Obdachlosen und den Leuten, die aus Florida angereist sind, um aus politischen Gründen Teil des Parks zu werden. Dann gibt es das, was mein Kollege Keith Gessen als "Die große Wäscherei-Debatte" beschreibt. Statt erwarteter Debatten um neue Wirtschafts- und Politiksysteme ist eine der dringenderen Fragen der Besetzer, wie man seine Unterwäsche sauber hält.
geboren 1975, studierte Geschichts- und Literaturwissenschaft in Harvard, Oxford, Yale. Er lebt in New York und ist Gründer und Mitherausgeber der dort erscheinenden Kulturzeitschrift n+1 und Assistenzprofessor für Literatur. Am 14. November erscheint sein Essayband "Bluescreen" bei Suhrkamp.
Die Technik des "menschlichen Mikrofons", jeden Satz zu wiederholen, den ein Redner gesagt hat, erinnert an eine Messe in der Kirche. Von außen betrachtet wirkt diese Technik wie eine Selbstironisierung der Linken, die ja auch immer das Gleiche wiederholt.
Als Zuhörer empfindet man diese Wiederholungen als debil und albern. Wenn man selber mitmacht, sieht man das anders. Es ist wie Meditation, die verhindert, dass große Streite ausbrechen und die Debatte irrational wird, weil das Tempo so unglaublich langsam ist, dass man viel Zeit zum Überdenken seines Arguments hat, bevor man redet.
Haben Sie auch mal jemanden etwas falsch wiederholen hören?
Ja, das Ganze ist schwieriger, als man denkt, und erinnert mich daran, dass man 20 Jahre lang dachte, Jimi Hendrix habe "Excuse me while I kiss this guy" gesungen, statt "kiss the sky". Interessant ist, dass die Leute nicht nur die Worte, sondern auch den Akzent übernehmen. Ein weißer Mittelschichtsjunge redet plötzlich wie die schwarze obdachlose Frau. Und das ist ziemlich irritierend, weil man nicht weiß, ob das Ganze eine falsche Solidarität, eine Karikatur oder ein Moment radikaler Ehrlichkeit ist.
Magazin n+1 ist ein Magazin für Politik, Literatur und Kultur, das 2004 von Mark Greif, Keith Gessen, Benjamin Kunkel und anderen Literaten und Literaturwissenschaftlern gegründet wurde und drei Mal jährlich in New York erscheint. Der amerikanische Autor Jonathan Franzen über das Magazin: "In dem Moment, wo man sich intellektuell alleingelassen fühlt, fällt einem n+1 in die Hände."
Occupy! heißt eine "OWS-inspirierte Gazette", die von n+1 und anderen Magazinmachern in New York produziert wird. Dieses Wochenende erscheint die zweite Ausgabe, die auf der Homepage von n+1 als Download zur Verfügung steht.
An der Bewegung wird von vielen kritisiert, keine Forderungen zu haben. Ist das eine Chance, nicht vereinnahmt zu werden?
Einerseits ist es jedes Mal ein Sieg für OWS, wenn sie es schaffen, nicht eine einzige Forderung aufzustellen, denn dadurch werden mehr Leute angezogen und weniger ausgeschlossen. Aber es macht uns natürlich verrückt, dass es keine Forderungen gibt. Jeder denkt darüber nach, was die Alternative wäre, denn die Polizei könnte das Camp wie in Oakland angreifen, und was bliebe dann übrig? Heimlich, glaube ich, haben alle in ihrem Tagebuch eine Liste mit Forderungen.
Sie schreiben, dass Sie am Anfang der ganzen Sache skeptisch gegenüberstanden, aber auch voller Ehrfurcht waren. Was hat Sie skeptisch gemacht und wovor haben Sie Ehrfurcht?
Skeptisch bin ich, weil ich glaubte, dass es zu wenige und die falschen Leute sind. Es sind vor allem junge Leute mit Dreadlocks oder solche, die aussehen wie professionelle Demonstranten, die seit Jahren von einer Demo zur nächsten ziehen. Ich wünschte mir, es gäbe unter ihnen mehr Leute mit Anzug und Krawatte. Das wäre ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Revolution wirklich bevorsteht. Außerdem fürchte ich, die langwierigen Versammlungen könnten langweilig, gehaltlos und albern werden. Ehrfurcht habe ich, weil die Leute entgegen allen pessimistischen Einschätzungen es geschafft haben, einen andauernden Protest zu organisieren.
Es heißt, dass mehr als die Hälfte aller Amerikaner die Ideen der Bewegung unterstützt. Ist die Stimmung in den USA zu vergleichen mit dem Enthusiasmus zu Zeiten der Wahl Barack Obamas?
Im Obama-Moment schienen die Leute euphorisch und betrunken vor Glück. Über OWS reden zwar auch alle, aber viele zweifeln an der Zukunft der Bewegung.
Wie groß ist die Bewegung wirklich?
Es ist wirklich ein sehr kleiner Park, in dem einige wenige hundert Leute schlafen. Tagsüber ist es etwas voller und am Wochenende die Touristenattraktion. Zwar werden die Besetzer dann wie Tiere im Zoo begafft, aber immerhin interessieren sich plötzlich ganz viele Leute für diese seltsamen Linken mit ihren komischen Gewohnheiten wie Dauerplena und Orga-Debatte.
Warum haben Sie sich als Magazinmacher und Literaturwissenschaftler mit einer Spezialausgabe, der Gazette, in die Bewegung eingemischt?
Als ich das erste Mal in den Zuccotti-Park ging, traf ich dort lauter Bekannte von anderen politischen Magazinen und Literaten und wir stellten fest, dass es uns allen unangenehm war, hier zu sein, bei etwas, dem man sowieso keine Chance gab. Aber der aus dem Park strömende Geist hat uns beeindruckt. Es ist nichts Heroisches, es ist ganz einfach das Eintreten für das Recht auf Versammlung und die Freiheit der Rede, das wie das Zähneputzen zum Alltag von uns allen gehören sollte. Wir wollen mit der Gazette die Entwicklung der Bewegung abbilden und die kritischen Zaungäste, vor allem ältere ehemalige Aktivisten, mobilisieren.
In den letzten Wochen wurde die Kritik laut, die Bewegung benutze antisemitische Stereotype in ihrer Kritik an der Wall Street. Ist das nur rechte Propaganda?
Ja, das ist Propaganda. Ich selbst bin Jude und meine jüdische Oma liebt den rechten Sender Fox News. Ihr Leben lang war sie Demokratin und auf einmal wurde sie zum Zombie, sie hat diese Propaganda geglaubt. Tatsächlich hat es nur einen einzigen Typen gegeben, der ein Schild trug, auf dem stand: "Zionisten regieren die Wall Street". Zwei andere sind ihm gefolgt. Auf dem einen Schild stand: "Dieser Mann redet nicht für uns". Auf dem anderen: "Arschloch".
Kritisiert wird die Bewegung auch wegen ihrer vermeintlichen Selbstvermarktung in einem MTV-Spot.
Eine unvermeidbare Entwicklung in einem Prozess der Befreiung ist, dass jemand dir sagt, dass du das, was du befreien willst, kaufen kannst. Du brauchst nur die richtigen Geräte oder die richtigen Klamotten dafür, damit das wirklich passiert. Aber so wie das mit dem Antisemiten im Zuccotti-Park eine Propagandalüge ist, ist es die vermeintliche Kommerzialisierung ebenfalls. Niemand läuft mit "OWS"-Shirt rum oder hat sich das auf den Arm tätowiert. Derzeit steht die Verfassung vorteilhaft zwischen der Bewegung und der neuen Nike-OWS-Line. Statt über MTV diskutieren die Leute in den Onlineforen vor allem über die Verfassung, und die gibt es dort gratis.
Sie sagen in Ihrem Buch, dass Reality-TV das Ideal einer sichtbaren Republik sei. Jeder kann jedem bei seinen Alltagsgesprächen zuhören und mitreden. Nun hat MTV eine Reality-TV-Show angekündigt: "True Life. I'm occupying Wall Street". Sehen wir einer Republik bei Ihrer Entstehung zu?
Es ist buchstäblich Reality-TV. Wir können die Ereignisse im Internet verfolgen, nach draußen gehen und beweisen, dass es wirklich stimmt, was die Bilder uns übermitteln. Das, was wir da beobachten, ist die Utopie einer Republik, in der alle Bürger sichtbar sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke